Tangenten
verwundert.
»Warum sind Roald und ich normal? Warum habt ihr uns nicht designen lassen?«
Jane und Donald warfen einander einen schnellen Blick zu und wandten sich an Letitia. Roald betrachtete sie, selbst etwas betroffen, mit großen Augen.
»Jetzt weißt du es doch sicherlich selbst«, sagte Jane und blickte auf den Tisch. Sie war entweder verdutzt oder wurde ärgerlich. Nun, da sie diesen Weg eingeschlagen hatte, konnte Letitia nicht anders, als sich weiter vorzuarbeiten.
»Ich weiß es nicht. Nicht wirklich. Es ist nicht, weil ihr religiös seid.«
»Etwas in der Art«, sagte Donald.
»Nein«, sagte Jane und schüttelte entschieden den Kopf.
»Warum dann?«
»Deine Mutter und ich…«
»Ich bin nicht nur ihre Mutter«, sagte Jane.
»Jane und ich glauben, daß es in der Natur einen gewissen Plan gibt – einen Plan, den wir nicht stören sollten. Wenn wir es wie die meisten anderen gemacht und versucht hätten, VEKs zu bekommen – an den Jungen-Mädchen-Lotterien teilgenommen und für die vorgeburtlichen Beratungsmöglichkeiten unterschrieben hätten – nun, dann hätten wir sie gestört.«
»Seit ihr in die Klinik gegangen, als wir geboren wurden?«
»Ja«, sagte Jane, immer noch den direkten Blickkontakt meidend.
»Das ist nicht natürlich«, sagte Letitia. »Warum nicht die Natur entscheiden lassen, ob wir lebendig zur Welt kommen oder nicht?«
»Wir haben nie behauptet, konsequent zu sein«, sagte Donald.
»Donald«, sagte Jane stirnrunzelnd.
»Es gibt Grenzen«, führte Donald weiter aus und lächelte versöhnlich. »Wir glauben, diese Grenzen beginnen, wenn Leute versuchen, in die Geschlechtszellen einzugreifen. Ihr hattet das alles in der Schule. Ihr wißt von den Protesten, als die ersten VEKs geboren wurden. Eure Großmutter war eine der Protestierenden. Eure Mutter und ich sind beide NGs; unser Kurs, unsere Generation hat einen bei weitem höheren Prozentsatz an NGs.«
»Jetzt sind wir Freaks«, sagte Letitia.
»Wenn du damit meinst, daß es nicht viele Teenager-NGs gibt, nehme ich an, daß es stimmt«, sagte Donald und berührte den Arm seiner Frau. »Aber es kann ebenso bedeuten, daß du etwas Besonderes bist. Auserwählt.«
»Nein«, sagte Letitia. »Nicht auserwählt. Ihr habt bei uns beiden gewürfelt. Wir hätten BGs werden können. Blindgänger. Nicht nur Schäbige, sondern Spätzünder.«
Eine unbehagliche Stille breitete sich am Tisch aus. »Unwahrscheinlich«, sagte Donald mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. »Eure Mutter und ich haben beide gute Genotypen. Eure Großmutter beharrte darauf, daß eure Mutter einen guten Genotyp heiratet. Es gibt keine entwicklungsmäßig unfähigen Leute in unseren Familien.«
Letitia fühlte sich in die Enge getrieben. Sie konnte keinen Ausweg erkennen, also stieß sie ihren Stuhl zurück und entschuldigte sich vom Tisch.
Als sie auf dem Weg hinauf in ihr Zimmer war, hörte sie von unten Erörterungen. Roald polterte hinter ihr die Stufen herauf und warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Warum mußtest du das alles aufbringen?« fragte er. »Es ist schon in der Schule schlimm genug, wir müssen es nicht auch noch hier so haben.«
Sie dachte an die Geschichte, die ihr die AR gezeigt hatte. Damals wäre es einer Familie mit ihrem Einkommen nicht möglich gewesen, in einem Haus mit vier Schlafzimmern zu wohnen. Damals hatten halb so viele Leute in den Vereinigten Staaten und Kanada gelebt als heute. Es gab mehr Arbeitslose, eine viel größere wirtschaftliche Unsicherheit und bei weitem weniger automatisierte Jobs. Der Prozentsatz der Menschen, die für ihren Unterhalt körperliche Arbeit leisten mußten – Bauhandwerk, Landwirtschaft, Entsorgung und ähnliche harte Arbeiten – war zehn Mal größer gewesen als jetzt. Die meisten der Menschen, die solche Arbeiten auch heute noch leisteten, gehörten religiösen Sekten an oder einer der Wendell-Barry-Farmkommunen.
Damals wären Roald und Letitia als talentierte Kinder mit glänzender Zukunft betrachtet worden.
Sie dachte an die Bilder und die Gefühle beim Anblick der Vergangenheit und fragte sich, ob Reena nicht recht gehabt hatte.
Sie wäre eine perfekte alte Frau.
Ihre Mutter betrat das Zimmer, während Letitia ihr Haar hochsteckte. Sie stand im Türrahmen. Es war offensichtlich, daß sie geweint hatte. Letitia beobachtete ihr Bild im Spiegel des Ankleidetisches ihrer Großmutter, den sie vor vier Jahren bekommen hatte. »Ja?« fragte sie leise mit zeitlosen
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