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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Haarklammern im Mund.
    »Es war mehr meine Idee, als die deines Vaters«, sagte Jane und trat, die Hände vor sich gefaltet, näher. »Ich meine, ich bin deine Mutter. Wir haben bisher noch nie richtig darüber gesprochen.«
    »Nein«, sagte Letitia.
    »Also, warum gerade jetzt?«
    »Vielleicht, weil ich erwachsen werde.«
    »Ja.« Jane blickte auf die zarten, flimmernden Bilder, die an den Wänden hingen, Pastellszenen von unwahrscheinlichen Wäldern. »Als ich mit dir schwanger war, hatte ich große Angst. Ich hatte Sorge, wir hätten die falsche Entscheidung getroffen, indem wir dem entgegen handelten, was alle anderen dachten und rieten, oder was ihnen selbst geraten wurde. Aber ich trug dich in mir und spürte deine Bewegungen… und ich wußte, daß du unser bist und nur unser, und das wir für deinen Körper und deine Seele verantwortlich sind. Ich war deine Mutter, nicht die Ärzte.«
    Letitia blickte mit gemischten Gefühlen auf: Ärger, Frustration – und Liebe.
    »Und nun sehe ich dich. Ich denke zurück an das, was ich fühlen würde, wäre ich noch einmal in deinem Alter, an deiner Stelle. Ich wäre vielleicht auch wütend. Roald hatte noch keine Zeit, um etwas anderes zu fühlen; er ist noch zu jung. Ich bin nur heraufgekommen, um dir das zu sagen. Ich weiß, daß das, was ich tat, richtig war, nicht für uns, nicht für sie« – sie deutete auf die weite Welt, jenseits der Wände des Hauses – »aber richtig für dich. Es wird sich herausstellen. Das wird es tatsächlich.« Sie legte die Hände auf Letitias Schultern. »Sie haben auch keine leichte Zeit. Du weißt das.« Sie hielt für einen Moment inne und offenbarte dann hinter ihrem Rücken ein Buch mit einem flexiblen braunen Deckel. »Ich habe dir dies mitgebracht, um es dir noch einmal zu zeigen. Erinnerst du dich an Urgroßmutter? Ihre Großmutter kam zusammen mit Großvater den ganzen Weg von Irland herüber.« Jane gab ihr das Album. Zögernd öffnete Letitia es. Es waren echte Fotographien darin, auf Papier, uralte Schwarz-Weiß-Bilder und verblichene Farbbilder. Ihre Urgroßmutter ähnelte nicht sehr ihrer Großmutter, die grobknochig gewesen war, schwerfällig. Urgroßmutter sah aus, als wäre sie ihr ganzes Leben lang mager gewesen. »Behalte das«, sagte Jane. »Denk eine Weile darüber nach.«
     
    Der Morgen kam mit geplantem Regen. Letitia nahm die halbleere Metro zur Schule. Sie betrachtete die terrassenförmige und begrünte und gelegentlich vernachlässigte Landschaft der ausgedehnten Vororte durch die tropfenbesetzte Scheibe. Sie erreichte das Schulgelände und ging zu einem der älteren Gebäude der Schule, wo es einen wenig benutzten Waschraum in altem Stil gab.Dieser diente ihr manchmal als Heiligtum. Sie stand in einem weißen Verschlag und atmete für einige Minuten tief durch, dann ging sie zu einem Becken und wusch sich die Hände, als würde sie einem Ritual nachkommen. Bedächtig, zaudernd betrachtete sie sich selbst in dem gesprungenen Spiegel. Ein Hausmeister ging seinen Aufgaben nach und hinterließ den frischen, dunstigen Geruch von sauberen Installationen.
    Der frühe Teil des Tages war eine empfindungslose Zeit. Letitia begann die Distanz zu ihren eigenen Gefühlen, zu den Menschen um sie herum zu fürchten. Jede Minute mochte sie in einen alten Waschsaal eintreten und einfach aus der Gegenwart verschwinden, um sich sechzig Jahre in der Vergangenheit wiederzufinden…
    Und was sollte sie nun wirklich davon halten?
    In ihrer dritten Unterrichtsstunde erhielt sie eine Notiz mit der Bitte, sich, so bald es ginge, in Rutgers Beratungsbüro einzufinden. Das war die Kurzform für sofort. Sie sammelte ihre Mods ein und erhaschte Reenas undeutbaren Blick, als sie an ihr vorüberging.
    Rutger war ein ansehnlicher Mann von dreiundvierzig (die Jahreszahl war auf seiner Schreibtisch-Lebensuhr registriert, eine Vorliebe einiger der älteren VEKs), mit einem breiten Lächeln und einem etwas zu grellen Geschmack, was Kleidung betraf. Er war der Kopf der Beratungsabteilung und an der Schule allgemein gut gelitten. Er schüttelte ihr die Hand, als sie das Beratungsbüro betrat, und bot ihr einen Stuhl an. »Nun. Du wolltest mit mir sprechen?«
    »Das nehme ich an«, sagte Letitia.
    »Probleme?« Seine Stimme war ein angenehmer Bariton. Er war wahrscheinlich ein ziemlich guter Sänger. In den frühen Tagen der VEKs war dies ein beliebter Zug gewesen.
    »Die ARs sagen, es ist meine Haltung.«
    »Und was ist damit?«
    »Ich – bin

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