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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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abrupt auf. Sie setzte sich im Bett auf und erkannte, wo sie sich befand und wer sie war, und begann zu weinen. Sie hatte den seltsamsten und schönsten Traum gehabt, den besten überhaupt – und das ohne Traum-Mod. Sie konnte sich nun an keine Einzelheiten mehr erinnern, so oft sie es auch versuchte, aber das Erwachen daraus war mehr, als sie ertragen konnte.
     
    In der ersten Unterrichtsstunde blitzte Georgia Fischer schon wieder und mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Letitia beobachtete die anderen und sah allgemeine Ausdruckslosigkeit, die die Gefühle überspielen sollte. Edna Corman entschuldigte sich in der zweiten Stunde und kam mit roten, geschwollenen Augen und geröteten Wangen zurück. Die Spannung hielt für den Rest des Tages an, und sie fragte sich, wie sich überhaupt jemand konzentrieren konnte. Sie lernte ohne rechte Überzeugung; sie war noch immer von ihrem Traum gefangen und versuchte herauszufinden, was er bedeutete.
    In der achten Stunde saß sie wieder hinter John Lockwood. Es war, als wäre sie in einen Kreis eingetreten, der am Morgen begonnen hatte und mit ihrer letzten Stunde enden würde. Sie blickte gespannt auf die Uhr. Wieder hatten sie bei Mr. Brant Unterricht. Er schien unaufmerksam zu sein, so, als hätte auch er einen Traum gehabt, der aber nicht so erfreulich gewesen war wie ihrer.
    Brant hatte sie bis zur Stundenmitte Mods ansehen lassen, und begann nun ein Gespräch über das, was sie gelernt hatten. Dies waren die sogenannten integrativen Momente, wenn das Lernen mit Medien durch soziale Interaktion gefestigt wurde. Letitia empfand diese Stunden bestenfalls als Prüfung. Die anderen diskutierten die Volkswirtschaft, wobei Reena Cathcart in einer Klasse von dominanten Persönlichkeiten wie gewöhnlich herausragte.
    John Lockwood hörte aufmerksam zu und hatte ein mildes Lächeln auf dem Gesicht, als er Letitia sein Profil zuwandte. Es sah so aus, als wolle er sich herumdrehen und mit ihr reden. Sie legte die Hand auf die Ecke ihrer Konsole und hob einen Finger, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
    Er blickte auf ihre Hand, wandte sich ab und blickte erschaudernd noch einmal hin, starrte sie mit großen Augen regelrecht an. Sein Mund verzog sich, als wäre ihre Hand das Schrecklichste, was er je gesehen hätte. Sein Kinn zuckte, dann seine Schultern, und bevor Letitia reagieren konnte, stand er auf und stöhnte. Seine Knie gaben nach, und er fiel auf die Konsole. Die Arme hingen hinab, und er glitt zu Boden. John Lockwood – der in seinem Leben noch nie so etwas durchgemacht hatte – lag auf dem Boden, krümmte sich, ächzte und zitterte, gefangen in einem heftigen Blitz.
    Brant drückte den Notschalter der Klasse und kam um seinen Schreibtisch herum. Bevor er Lockwood erreichte, wurde der Junge ruhig. Seine Augen waren geöffnet, und seine Hand löste ihren festen Griff um das Bein seines Stuhls. Letitia konnte sich nicht regen. Sie beobachtete seine leeren Augen; er schien so schrecklich schlaff zu sein.
    Brant faßte den Jungen unter die Arme und zog ihn, ständig vor sich hinfluchend, aus dem Klassenzimmer. Letitia folgte ihnen in den Flur, um zu helfen. Edna Corman und Reena Cathcart standen mit verdutzten Gesichter neben ihr. Andere Schüler folgten, hielten sich aber von Brant und dem Jungen fern.
    Brant legte John Lockwood auf den Beton und begann damit, auf seine Brust zu drücken und Mund-zu-Mund-Beatmung zu verabreichen. Er zog eine Spritze aus seiner Jackentasche, machte die Kappe ab und schoß die ganze Ladung unter das Brustbein in die Haut des Jungen. Letitia richtete ihren Blick verwundert auf die Spritze. Sie war in seiner Tasche gewesen, nicht im Erste-Hilfe-Kasten.
    Die ganze Klasse stand schweigend und betroffen im Flur. Die medizinische Einheit traf ein, gefolgt von Rutger. Sie hob John Lockwood auf ihre Ladefläche und schwang mit funkelnden Lichtern herum. »Haben Sie KVN verabreicht?« fragte der Roboter Brant.
    »Ja. Fünf cc’s. Direkt ins Herz.«
    Eine Klasse nach der andern kam in den Flur, um nachzusehen, was passiert war. Alle VEKs hefteten die Augen auf die beladene medizinische Einheit, die den Flur hinabrollte. Edna Corman weinte. Reena blickte Letitia an und wandte sich ab, als würde sie sich schämen.
    »Das wären fünf«, sagte Rutger mit müder Stimme. Brant sah erst ihn an, dann die Klasse, und sagte ihnen, sie wären entlassen. Letitia blieb zurück. Brant verzog sein Gesicht in Kummer und Ärger. »Geh! Raus hier!«
    Sie rannte.

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