Tangenten
häßlich. Ich bin das häßlichste Mädchen… das einzige Mädchen an dieser Schule, das häßlich ist.«
Rutger nickte. »Ich glaube nicht, daß du häßlich bist. Aber was ist schlimmer, einzigartig zu sein, oder häßlich?« Letitia verzog in schnaubender Anerkennung des Spaßes den Mundwinkel.
»Heutzutage ist jeder einzigartig«, sagte sie.
»Das ist, was wir lehren. Glaubst du daran?«
»Nein«, sagte sie. »Alle sind gleich. Ich bin…« Sie schüttelte den Kopf. Sie nahm es Rutger übel, daß er sie über ihre Gefühle aushorchen wollte. »Ich bin AV. Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, ein VEK zu sein, aber das bin ich nicht.«
»Ich denke, das ist nur ein untergeordnetes Problem«, sagte Rutger schnell. Er hatte noch nicht einmal Platz genommen. Offensichtlich wollte er ihr nicht viel Zeit zugestehen.
»Es fühlt sich nicht untergeordnet an«, sagte sie. Seine Worte lösten Ärger in ihr aus.
»Oh, nein. Jung sein bedeutet, daß sich nebensächliche Probleme wie große anfühlen. Du spürst Neid und magst dich selbst nicht, wenigstens nicht so, wie du aussiehst. Nun, daß Aussehen kann mittels Diät verändert werden oder zumindest durch die Zeit. Wenn ich ein Gutachter sein sollte, würde ich sagen, du wirst gut aussehen, wenn du älter bist. Und ich bin so etwas wie ein Gutachter. Was das Verhältnis der anderen zu dir angeht… Ich war einst ein Freak.«
Letitia blickte ihn an.
»Gewiß. Echt. Ich war ein größerer Freak als du. Es gibt nun auf dieser Schule zehn NGs wie du. Als ich in deinem Alter war, war ich der einzige VEK auf meiner Schule. Stets gab es Argwohn und sogar Aufruhr. Einige VEKs wurden getötet, als Eltern das Gelände einer Schule stürmten.«
Letitia machte große Augen.
»Die anderen Kinder haßten mich. Ich sah nicht schlecht aus, aber sie wußten, warum. Sie hatten Eltern, die ihnen sagten, VEKs wären Frankensteins Monster. Erinnerst du dich an die Rifkin-Gesellschaft? Es gibt sie immer noch, aber sie ist jetzt eine extreme Randgruppe. Das tut jetzt nichts zur Sache. Sie dachten, ich wäre in einem Reagenzglas herangewachsen und von einem Inkubator ausgebrütet worden. Du hast bisher noch keinen richtigen Haß erlebt, vermute ich. Ich schon.«
»Sie sehen gut aus«, sagte Letitia. »Sie wußten, daß jemand Sie gern mögen, vielleicht sogar lieben würde. Aber was ist mit mir? Weil ich bin, was ich bin, so, wie ich aussehe, wer wird mich da schon haben wollen? Und wird sich je ein VEK mit einer Schäbigen abgeben wollen?«
Sie wußte, es waren schwere Fragen, und Rutger gab auch nicht vor, sie beantworten zu können. »Nehmen wir an, alles läuft schlecht«, sagte er. »Du endest als alte Jungfer und niemand wird dich jemals lieben. Du verbringst den Rest deiner Tage allein. Ist es das, worüber du dir Sorgen machst?«
Ihre Augen weiteten sich. Sie hatte diese Dinge noch nicht so recht durchdacht. Nun schmerzte es wirklich.
»Jedermann wählt Schönheit für seine Kinder. Sie wählen schlanke, athletische Körper und scharfe Geister. Du hast einen scharfen Verstand, aber du hast keinen athletischen Körper. Wenigstens scheinst du davon überzeugt zu sein; ich habe keine Aufzeichnungen darüber, ob du es je mit Athletik versucht hast. Wenn du aber in die Welt der Erwachsenen eintrittst, wirst du mit Sicherheit anders aussehen. Aber warum kann das kein Vorteil sein? Du magst überrascht sein, wie sehr wir VEKs versuchen, anders zu sein. Und wie schwer das ist, da sich der Geschmack unserer Eltern so wenig voneinander unterscheidet. In dir ist es schon eingebaut.«
Letitia hörte zu, aber die Worte überzeugten sie nicht. »Zuckerguß auf dem Kuchen«, sagte sie.
Rutger betrachtete sie mit seinen klugen blauen Augen und zuckte die Achseln. »Komm in einem Monat noch einmal vorbei. Dann reden wir noch mal darüber«, sagte er. »Bis dahin, denke ich, leisten die Autoratgeber gute Arbeit.«
Während des Essens wurde nur wenig gesprochen und noch weniger danach. Sie ging bereits früh hinauf ins Bett; sie fühlte sich beschissen.
Ihr Vater machte seinen üblichen Gute-Nacht-Gang, eine Stunde nachdem sie ihren Pyjama angezogen und sich hingelegt hatte. »Schön zugedeckt?« fragte er.
»Hmm«, erwiderte sie.
»Träum was Schönes«, sagte er. Rituale und Formeln. Ihr Leben war von Eltern gestaltet worden, denen die allabendlichen Rituale und Formeln am Herzen lagen.
Beinahe unmittelbar nach dem Einschlafen – wenigstens kam es ihr so vor – wachte sie
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