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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Ort sein. Ich möchte helfen, wenn ich darf.«
    »Dann möchte ich Programm sechzehn.«
    »Steht bereit, Letitia.« Die Projektion flackerte, und das Gesicht wandelte sich zu einer Realperson-Simulation von Marian Tempesino, der einzigen CG-AR, bei der sich Letitia wohl fühlte.
    Tempesino hatte keine Störungen, was nahelegte, daß sie ein nur selten genutztes Programm war. Das war Letitia nur recht. »Hier sechzehn. Letitia? Du siehst niedergeschlagen aus. Noch mehr Einstellungsstörungen?«
    »Ich wollte mit Dr. Rutger reden, aber er ist beschäftigt. Also rede ich mit dir. Und ich möchte eine Aufzeichnung. Ich will raus aus der Schule. Ich möchte, daß mich meine Eltern herunternehmen und mich auf eine NG-Schule gehen lassen.«
    Tempesinos Gesicht hatte keinen besonderen Ausdruck, was einer der Gründe war, weshalb Letitia das Programm 16 AR mochte. »Warum?«
    »Weil ich ein Freak bin. Meine Eltern haben mich zu einem Freak gemacht, und ich möchte wissen, warum ich nicht bei all den anderen Freaks bin.«
    »Du bist eine Natürliche, kein Freak.«
    »Um wie irgendeine von den anderen auszusehen – selbst wie Reena Cathcart – müßte ich den Rest meines Lebens mit Bioplasty verbringen. Ich halte es nicht mehr aus. Sie haben mich gefragt, ob ich nicht die alte Lady in einem ihrer Dramen spielen will. Die einzige Rolle, die zu mir paßt. Eine alte Lady!«
    »Sie versuchen, dich miteinzubeziehen.«
    »Es tut weh!« sagte Letitia mit Tränen in den Augen.
    Tempesinos Bild flackerte etwas, als die Gefühlsregung registriert wurde und eine höhere Autoritäts-AR hinter 16 trat.
    »Ich will nur raus. Ich möchte allein sein.«
    »Wohin würdest du denn gerne gehen, Letitia?«
    Letitia dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Ich will zurück dahin, als häßlich sein normal war.«
    »Na gut. Laß es uns simulieren. Sechzig Jahre sollten ausreichen. Bereit?«
    Sie nickte und verwischte mit ihrem Handrücken noch mehr Wimperntusche.
    »Dann mal los.«
    Es war wie ein Traum, etwas verschwommener als das Einstöpseln in ein Mod. CG-Bilder, zusammengestellt aus Tausenden von Kilometern an alten Filmen und Bändern und beschreibenden Aufzeichnungen gaben ihr das Gefühl, als fliege sie in der Zeit zurück zu einem Ort, den sie gerne ihr Zuhause genannt hätte. Gesichter erschienen ihr – Gesichter in häßlichen Variationen, die vorzeitig altern, Brillen trugen, auch einige hübsche Gesichter, die auch heute bestehen könnten – und die Gesichter wichen zurück, um mit Körpern verbunden zu werden. Körpern, die aus der Form geraten waren, sich in guter Verfassung befanden, übergewichtig, krank oder gesund waren, rotgesichtig, mit zu hohem Blutdruck: das gesamte Spektrum der veränderlichen und zum Desaster neigenden Bevölkerung der Menschheit vor sechzig Jahren. Das war es, wo Letitia sich zugehörig fühlte.
    »Sie sind schön«, sagte sie.
    »Sie denken nicht so. Sie stürzten sich auf die Chance sicherzustellen, daß ihre Kinder schön, adrett und gesund würden. Es war eine Zeit des Übergangs, Letitia. Genau wie auch jetzt.«
    »Jeder schaut nun gleich aus.«
    »Ich glaube nicht, daß das fair ist«, sagte die AR. »Es gibt eine beträchtliche Vielfalt in der Art, wie die Leute heute aussehen.«
    »Nicht in meinem Alter.«
    »Besonders in deinem Alter. Schau her.« Die AR zeigte ihr Dutzende von Gesichtern. Wenige sahen gleich aus, aber alle waren sie ansehnlich oder reizend. Einige bereiteten Letitia vom bloßen hinsehen Schmerzen; Gesichter, mit denen sie nie gut Freund sein konnte, nie würde lieben können, weil es stets jemand schöneres und wünschenswerteren gab als eine NG.
    »Meine Eltern hätten damals leben müssen. Weshalb haben sie mich zu einem Freak gemacht?«
    »Du bist entwicklungsmäßig normal. Du bist kein Freak.«
    »Sicher. Ich bin eine SNG. Schäbig. So nennen sie mich.«
    »Forderst du die Beschimpfung nicht manchmal heraus?«
    »Nein!« Dies brachte sie nicht weiter.
    »Letitia, wir alle müssen uns anpassen. Selbst die heutige Welt ist nicht fair. Bist du sicher, daß du alles tust, um dich anzupassen?«
    Letitia wand sich auf ihrem Stuhl um und sagte, sie wolle weg. »Nur einen Moment«, sagte die AR. »Wir sind noch nicht fertig.« Sie kannte diesen Ton. Den ARs wurde zuweilen erlaubt, etwas grob zu werden. Sie konnten ungebärdigen Studenten Aufträge auf dem Gelände zuweisen oder sie stundenlang zurückhalten und ihnen Aufgaben stellen, die gewöhnlich Computern überlassen

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