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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Das letzte, was sie Rutger sagen hörte, war: »Diese Woche mehr als letzte.«
     
    Letitia saß in dem verlassenen weißen Waschraum, wischte sich die Augen und schämte sich ihrer Wehleidigkeit. Sie wollte wie eine Erwachsene reagieren – sie sah sich, wie sie ruhig und besonnen jenen in der Klasse Hilfe bot, die sie benötigten – aber die Tränen und das Zittern wollten nicht aufhören.
    Mr. Brant schien verärgert zu sein, so als hätte die gesamte Klasse Schuld. Mr. Brant war nicht nur erwachsen, er war auch VEK.
    Also erwartete sie von Erwachsenen, besonders von VEK-Erwachsenen, daß sie besonnener auftraten?
    War es das nicht, worum es überhaupt ging?
    Sie starrte sich im gesprungenen Spiegel an. »Ich sollte nach Hause gehen, oder zur Bibliothek zum Lernen«, sagte sie. Würde und Anstand. Zwei Mädchen kamen in den Waschraum, und ihr privater Augenblick war vorbei.
    Letitia ging nicht zur Bibliothek. Statt dessen ging sie zur alten Festhalle aus Beton und Stahl, trat durch den geöffneten Bühneneingang und blieb in der Dunkelheit der Kulissen stehen. Drei Schülerinnen saßen etwa zehn Meter von Letitia entfernt in der ersten Reihe unterhalb der Bühnenebene. Reena erkannte sie, nicht jedoch die anderen beiden, sie hatten keine gemeinsamen Kurse.
    »Kanntest du ihn?«
    »Nein, nicht sehr gut«, sagte Reena. »Aber er war in meiner Klasse.«
    »Keine Ausflüchte!« schnaubte die dritte.
    »Trish, behalt es bitte für dich. Reena hatte es schwer.«
    »Er hat nicht geblitzt. Er war kein Begabter. Niemand hat damit gerechnet.«
    »Wann war seine Initiierung?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Reena. »Wir sind alle im gleichen Alter, innerhalb von ein paar Monaten. Wir sind alle aus dem gleichen Modelljahr, mit der gleichen Ergänzung. Wenn es etwas mit dem Genotyp zu tun hat, in den Ergänzungen… Ich habe jemanden sagen hören, daß es bisher fünf sind.«
    »Ich habe überhaupt nichts gehört«, sagte die dritte.
    »Ich auch nicht«, sagte die zweite.
    »Nicht in unserer Schule«, sagte Reena. »Außer bei den Begabten. Und von denen ist noch keiner gestorben.«
    Letitia preßte die Hand auf den Mund und wich zurück in die Dunkelheit. War Lockwood tatsächlich gestorben?
    Sie dachte in einen verrückten Augenblick lang daran, hinauszutreten zu den dreien und zu sagen, es täte ihr leid. Der Impuls schwand schnell. Es wäre sehr aufdringlich gewesen.
    Sie waren nicht älter als sie und klangen nicht viel reifer. Sie klangen ängstlich.
     
    Morgens, im Stationsraum für Sekundär-Vorstudenten der Medizin, erklärte Brant ihnen, daß John Lockwood am vorherigen Tag gestorben sei. »Er hatte einen Herzanfall«, sagte Brant. Letitia ahnte, daß dies nicht die vollständige Wahrheit war. Eine kurze Lobrede wurde verlesen, und es wurden besondere Stunden für psychologische Beratungen für die Schüler arrangiert, die meinten, daß sie Bedarf dafür hätten.
    Das Wort ›blitzen‹ wurde den gesamten Tag weder von Brant noch von irgendeinem der VEKs erwähnt. Letitia versuchte, etwas über dieses Thema herauszufinden, fand aber äußerst wenig Material in den Bibliotheken, die für ihr Mod zugänglich waren. Sie vermutete, es lag daran, daß sie nicht wußte, wo sie suchen mußte. Es war kaum zu glauben, daß niemand wußte, was passiert war.
     
    Der Traum kam wieder, noch stärker in der folgenden Nacht, und Letitia erwachte daraus vor Aufregung kalt und zitternd. Sie sah sich selbst, wie sie vor einer Menge stand. Kein einziges Gesicht war sichtbar, denn sie stand im Licht, und die anderen waren in der Dunkelheit. Im Traum hatte sie eine beinahe unerträgliche Glückseligkeit, Kummer gemischt mit Freude, verspürt, mit nichts zu vergleichen, was sie vorher erlebt hatte. Sie liebte und wußte nicht, was sie liebte – nicht die Menge, keinen Mann, kein Familienmitglied, nicht einmal sich selbst.
    Sie setzte sich in ihrem Bett auf, umklammerte die Knie und fragte sich, ob noch jemand anderes wach war. Es schien möglich, daß sie bis jetzt noch nie wach gewesen war; jeder Nerv war lebendig. Um in diesem Moment von niemandem gestört zu werden, stand sie leise auf und ging den Flur hinab zum Nähzimmer ihrer Mutter. Dort betrachtete sie sich in einem Ankleidespiegel, als besäße sie neue Augen.
    »Wer bist du?« flüsterte sie. Sie zog ihr Baumwollnachthemd hoch und starrte auf ihre Beine. Kleine Waden, klumpige Knie, Schenkel nicht übel – auf jeden Fall nicht fett. Ihre Arme sahen weich aus, nicht

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