Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
meist sehr zuverlässig«, versicherte Emma mir. »Aber wenn du willst, schau ich mal nach, ob ich etwas finden kann, um sie zu untermauern.«
»Danke, Emma. Ich muss jetzt aufhören.«
»Ich auch«, sagte sie. »Es ist ein herrlicher Tag und die Stangenbohnen rufen.«
Ich ging zum Frisiertisch, auf den Swann meinen Aktenkoffer gelegt hatte, und holte das blaue Tagebuch heraus. Ich setzte mich damit aufs Bett und öffnete es, aber noch ehe ich ein Wort gesagt hatte, erschien Tante Dimitys Schrift auf der Seite.
Hier gibt es keine Spur von Julia Louise , meine Liebe , also muss sie an dem anderen Ort sein . O Lori , ich fürchte , sie muss etwas sehr Schlimmes getan haben . Ich wusste , dass Williams Vorhaben unvorsichtig war . Wenn du es Lucy sagen musst , dann bring es ihr schonend bei . Sie braucht eine Freundin und sie mag dich sehr . Sie könnte sich wieder zurückziehen , wenn du ihre verehrte Ahnfrau madig machst .
Ich wartete, und als nichts weiter auf der Seite erschien, klappte ich das Buch zu. Mit einem Seufzer streckte ich mich auf dem Patchworküberwurf aus und sah zur Decke. Hatte Nell richtig geraten?
War Julia Louise der Vormund von Sybella Markham gewesen? Und hatte die Drachenmutter wirklich etwas ›sehr Schlimmes‹ mit ihrem Mündel angestellt?
»Was ist mit Sybella passiert?«, fragte ich mich laut, wobei ich erschauerte, als sei jemand über mein Grab gegangen.
23
ICH VERSCHLIEF DAS Abendessen. Der Duft von Roastbeef lag noch in der Luft, als ich die Treppe hinunterging, aber die Stimmen kamen aus dem Wohnzimmer gleich neben dem Flur. Ich erkannte sowohl Antheas Stimme als auch Nells und Lucys, und ihrem Gespräch entnahm ich, dass sie den restlichen Nachmittag damit zugebracht hatten, sich die Farm anzusehen.
Einen Augenblick lang stand ich unbemerkt an der Tür. Das Wohnzimmer war genauso einladend wie die Küche, und ebenso großzügig in seinen Proportionen. An den Wänden hingen gerahmte Aquarelle von Pferden und auf dem Kaminsims drängten sich Pokale, Rosetten und Bänder. Eine bunte Mischung aus Möbeln verschiedener Stilrichtungen vervollständigte das gemütlichunordentliche Bild – vor dem Kamin stand eine Gruppe chintzbezogener Sessel sowie ein weiches Sofa, außerdem gab es mehrere Ottomanen mit Kissen im Paisleymuster und eine Hand voll Tischchen in verschiedenen Formen und Größen. Die schweren Vorhänge waren zugezogen.
In einer Ecke des Raumes war ein Arbeitsplatz eingerichtet. Hier stand ein weiterer Bücherschrank aus irischer Kiefer, ähnlich dem in der Küche, sowie ein langer Esstisch, der als Schreibtisch benutzt wurde. Darauf lagen Bleistifte und Kugelschreiber und eine Menge Bücher, die allesamt starke Gebrauchsspuren zeigten. Den Ehrenplatz aber nahm eine alte RemingtonSchreibmaschine ein, die von Papierstapeln umgeben war. Vermutlich handelte es sich bei diesen Stapeln um Antheas Biografie von Julia Louise, die Lucy in London erwähnt hatte. Ich entdeckte ein weiteres Porträt von Julia Louise an der Wand über der Schreibmaschine, und mich überkam ein merkwürdiges Gefühl.
Sie war in Goldbrokat gekleidet und trug ein eng anliegendes, breites Halsband aus Perlen und Brillanten, und irgendwie kam es mir vor, als beobachte sie mich.
Anthea saß zwischen Lucy und Nell auf dem Sofa vor dem Kamin, auf ihrem Schoß lag ein geöffnetes Fotoalbum. Lucy trug immer noch ihre legere Kleidung von heute Nachmittag, aber Nell hatte sich natürlich zum Abendessen umgezogen. Sie trug ein blaues Samtkleid mit langen Ärmeln und einem gehäkelten Kragen, und Bertie, der auf ihrem Schoß saß, trug ein flottes schwarzes Cape mit rotem Seidenfutter.
»Lori«, sagte Anthea und stand auf, um mich zu begrüßen. Sie hatte ihr graues Haar gelöst und statt ihrer Reitkleidung trug sie ein atemberaubendes weich fließendes Kleid in einem Grün, das an Meeresschaum erinnerte. »Es tut mir Leid, dass ich nicht hier war, als ihr ankamt. Ich muss mich auch wegen meines Benehmens heute Nachmittag im Dorf entschuldigen. Wenn ich ein Pferd verkaufe, bin ich immer schlecht gelaunt. Ich hasse es einfach, wenn ich mich von einem meiner Lieblinge trennen muss.«
»Du musst hungrig sein«, sagte Lucy, die zu uns trat. »Soll ich Swann bitten, dass er dir ein Tablett hier herein bringt? Er und Paul waschen gerade ab.«
»Swann freut sich, einen Mann hier zu haben«, erzählte Anthea, nachdem Lucy das Zimmer verlassen hatte. »Ich fürchte, dein Schwiegervater war ihm in dieser
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