Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
wirklich, dass er Sir Williston ist .«
»Ja, das denkt er«, bestätigte Lucy.
»Warum hatte Sir Williston nur Angst vor seiner Mutter?«, fragte Nell. »Ich war sehr überrascht, als Onkel Williston uns sagte, dass er sich vor Julia Louise fürchtete.« Langsam drehte ich mich zu Nell und sah sie an. Ich hatte das Manuskript, das sie Sir Poppet entwendet hatte, inzwischen ebenfalls gelesen, und ich konnte mich nicht erinnern, dass Julia Louises Name darin erwähnt wurde.
Was führte sie im Schilde?
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum er dir das erzählt hat«, sagte Lucy. »Sir Williston hatte keinen Grund, sich vor seiner Mutter zu fürchten. Er war ein guter und pflichtbewusster Sohn – ganz das Gegenteil von seinem Bruder.«
»Das wäre Lord William«, sagte Nell.
»Lucy und Anthea sind ganz vernarrt in Julia Louise«, bemerkte Swann, an mich gewandt.
»Meine bescheidene Meinung ist, dass sie ein fürchterlicher alter Drachen gewesen sein muss.«
»Swann«, sagte Lucy leise, wobei sie den Kopf schüttelte, als ob sie das alles schon oft gehört hatte.
»Antheas Forschungsarbeiten sind mir bekannt«, erinnerte Swann sie. »Sie hat die halbe Nacht mit Vetter William darüber gehockt, um ihm alles zu zeigen, deshalb ist mir das alles sehr gut in Erinnerung. Wirklich, Lucy, denk doch mal an all die Prozesse, die Julia Louise angestrengt hat. Es verging doch kaum ein Tag, an dem sie nicht jemanden verklagt hat.«
»Sie hat eben die Interessen der Familie vertreten«, sagte Lucy ruhig.
Doch Swann fuhr mit seinem Protest fort. »Dann setzt sie dem Ganzen noch die Krone auf, indem sie ihr eigenes Fleisch und Blut ins Exil schickt, bloß weil er sich ein bisschen die Hörner abgestoßen hat.«
»Ihr ging es um den guten Namen der Familie«, beteuerte Lucy.
»Na ja, für Lord William war es ein Glücksfall, wenn du mich fragst«, sagte Swann. »Schließlich musste der arme alte Williston mit dem Drachen zu Hause bleiben.« Er deutete mit seinem Brotkanten auf Nell. »Ich glaube, die kleine Nell hat es ganz richtig erfasst, dass Sir Williston eine ziemliche Angst vor Julia Louise gehabt haben muss. Ich weiß, mir wäre es nicht anders gegangen.«
Lucy wollte gerade etwas erwidern, doch Nell kam ihr zuvor.
»Hatte Julia Louise ein Mündel?«, fragte sie.
»Ein verwaistes junges Mädchen vielleicht, das bei ihr lebte und um das sie sich kümmerte?«
Lucy sah überrascht aus. »Nein. Warum fragst du?«
»Etwas, was Onkel Williston sagte, klang irgendwie danach«, antwortete sie leichthin. »Aber es ist nicht wichtig.«
Lucy wollte gerade eine Gabel voll Soufflé zum Mund führen, doch sie setzte sie wieder ab. »Was du bei meinem Onkel nicht vergessen darfst«, sagte sie ernst, »ist, dass er weniger ein historisches Ereignis nachspielt als … sich hinter einer historischen Persönlichkeit versteckt. Er interpretiert alles durch den Filter seiner Geschichte.«
»Das hat man uns in Cloverly House auch gesagt«, sagte Nell, und dann wechselte sie schnell das Thema, indem sie Swann fragte, ob sie mir eine Kanne mit Sir Poppets Kräutertee brauen dürfe. Ich erklärte kurz die Geschichte mit der verdorbenen Blutwurst, und während Nell den Tee machte, unterhielt Swann uns mit Anekdoten über seine kulinarischen Erlebnisse in exotischen Ländern. Er war gerade dabei, zu erklären, dass es in Peking fast so schwer war, Hundefleisch abzulehnen wie dieses überhaupt zu erkennen, als ich plötzlich so herzhaft gähnen musste, dass ich fast meine Teetasse mit verschluckt hätte.
»Oh, es tut mir Leid.« Swann sah uns schuldbewusst an. »Ihr müsst völlig erledigt sein nach eurer langen Fahrt. Lucy, bitte bring deine Cousine gleich nach oben. Sie muss sich vor dem Abendessen etwas hinlegen, das wird ihr gut tun.«
Das Schlafzimmer, in das Lucy mich führte, war ländlich eingerichtet, ein Doppelbett mit einem einfachen Kopfteil aus Eiche und einer Patchworkdecke, ein Sessel und eine Ottomane mit Chintz
überzug; Kleiderschrank und Toilettentisch waren ebenfalls aus Eiche, und auf dem Boden lag ein bunter Flickenteppich. Auf dem Nachttisch neben dem Telefon saß Reginald.
Lucy ging durchs Zimmer und hob ihn auf.
»Der ist ja goldig. Hast du ihn schon lange?«
»Seit ich mich erinnern kann«, sagte ich, wobei ich rot wurde. Ich war es nicht gewohnt, Reg Fremden vorzustellen.
»Ich finde es süß, dass du ihn mitgebracht hast.«
Lucy ließ sich in den Sessel fallen und berührte Reginalds rosa
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