Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
noch eine leicht angestoßene Buntglasscheibe funkelte.
Mein geistiges Bild wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Realität auf. Tatsächlich handelte es sich um ein vierstöckiges Wohnhaus aus Ytong, modern und gepflegt, mit von Aluminiumrahmen eingefassten großen Fenstern. Aus der Ostfassade ragten vier Betonbalkone, einer auf den anderen gestapelt und jeder mit einem braun gestrichenen Metallgeländer ausgestattet. Die Eingangstür bestand aus Glas und Aluminium. Geranien gab es nicht. Kurz und gut, die St. Cuthbert Lane, Hausnummer 42, war proper, ordentlich, funktional und ohne jeden Charme.
Enttäuscht musterte ich den nüchternen Kubus, und allmählich dämmerte mir, warum Miss Beacham von Finch fasziniert gewesen war. Kein Zweifel, unser winziges Dorf voller gemütlicher, skurriler Cottages – und sogar noch schrulligerer Bewohner – hatte die sensible Frau, die in diesen seelenlosen Betonbunker eingekerkert war, zwangsläufig ungemein ansprechen müssen.
Seufzend zog ich mir die Kapuze meines Parkas über den Kopf, schnappte mir die Umhängetasche und stieg aus. Sofort peitschte mir der Wind eisige Regentropfen ins Gesicht, als wollte er mir bestätigen, dass es richtig gewesen war, den Jungs und mir selbst heute früh einen kuscheligen Kaschmirpullover, eine warme Hose und wasserdichte Stiefel anzuziehen.
Ich eilte zum Eingangsbereich des Hauses, wo ich zunächst die Kapuze zurückschlug und die Nässe abschüttelte, ehe ich mich den rechts von mir in die grau geflieste Wand eingelassenen Briefkästen zuwandte. Es waren insgesamt vier, alle in einer Reihe angeordnet. Darunter befand sich ein mit Reklamezetteln übersäter Tisch, zu dessen Fü ßen ein zur Hälfte mit zerrissenen Umschlägen und zusammengeknülltem Papier gefüllter Plastikkorb stand. Der Anblick all des Mülls hellte meine Stimmung erheblich auf, bewies er mir doch, dass hier tatsächlich Menschen lebten.
»Vier Briefkästen, vier Etagen, vier Wohnungen«, sagte ich laut. Meine Worte hallten hohl von den kahlen Wänden wider.»Miss Beacham muss das gesamte obere Stockwerk für sich gehabt haben. Schön für sie!«
Über jedem Briefkasten befand sich ein Summer, und bei der Eingangstür entdeckte ich eine Sprechanlage. Ich überflog die Namensschilder auf den Briefkästen. Auf demjenigen mit der Nummer vier prangte in gestochen schöner Handschrift der Name von Miss Beacham. Der Kontrast zwischen dieser eleganten, kräftigen Kalligraphie und der schwachen, zittrigen Schrift in dem Brief an mich war augenfällig. Da hatte Miss Beachams Krankheit schon eindeutig ihren Tribut gefordert. Mit einer Fingerkuppe zeichnete ich das kunstvolle B
von Beacham nach, dann besann ich mich auf meine Aufgabe und zog die Schlüssel aus der Tasche.
Mit dem Messingschlüssel sperrte ich die Tür zur Vorhalle auf, wo ich mich zwischen einem gut beleuchteten, mit Teppich ausgelegten Treppenhaus und einem Aufzug entscheiden durfte. Dankbar wählte ich den Lift. Ich hatte mich nicht darauf gefreut, drei Stockwerke hochzusteigen.
Wenig später öffnete sich der Aufzug zu einem kurzen Korridor mit weißen Wänden und grauem Teppich, alles blitzsauber. Kein Staubkörnchen war zu entdecken, auch keine Fingerabdrücke auf dem Lichtschalter, doch dafür wirkte das Ganze so kalt, so steril auf mich, dass ich eine Gänsehaut bekam.
Ich hielt mir das gemütliche Chaos meines eigenen Flurs vor Augen – den Flickenteppich, die überfüllte Garderobe, das sich ständig verändernde Durcheinander aus Schuhen, Regenschirmen, Fahrradhelmen und den verschiedensten Spielsachen, das sich um den Telefontisch herum auftürmte –
und fragte mich unwillkürlich, wie Miss Beacham es hatte ertragen können, an einem Ort zu wohnen, der überhaupt nichts Persönliches hatte.
»Ein Zuhause sollte wie ein Zuhause aussehen«, murmelte ich, »und nicht wie ein Operationssaal.«
Eine Feuertür führte zum Treppenhaus, das ich gemieden hatte, Miss Beachams Wohnung befand sich direkt gegenüber dem Aufzug. Der silberne Schlüssel ließ sich ohne Widerstand drehen, dann schwang die Tür nach innen auf. Ich streckte die Hand aus, tastete nach einem Schalter und drückte ihn – um jäh heftig blinzelnd zurückzuweichen.
Doch das lag nicht am plötzlichen Licht, sondern daran, was es mir offenbarte.
5
»HEILIGER STROHSACK«, FLÜSTERTE ich.
Der Flur von Miss Beachams Wohnung hatte überhaupt nichts Unpersönliches – im Gegenteil, es kam mir so vor, als hätte sich ein
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