Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
gebundenes Fotoalbum aussah. Ich nahm das rechteckige Ding heraus und setzte mich damit in den Sessel mit dem tiefen Sitz.
Es war ein Fotoalbum und noch dazu ein neues mit umweltfreundlichen kartonierten Blättern und durchsichtigen Plastikecken. Die Aufnahmen waren in chronologischer Reihenfolge eingeklebt worden, von der frühesten Kindheit bis zur jüngsten Vergangenheit. Dazu hatte Miss Beacham – die Handschrift war mir inzwischen wohlvertraut –
auf jeder Seite die nötigen Informationen vermerkt: Datum, Ort, Namen.
Ich geriet ins Grübeln. Wann hatte sie dieses Album zusammengestellt? Warum hatte sie es nicht Mr Moss gegeben, dem sie doch auch die anderen Familienfotos anvertraut hatte? Und warum sollten diese Aufnahmen hier im Zylinderpult verborgen bleiben?
Die Fotos waren allesamt älter als das Album.
Beim Durchblättern verfestigte sich meine Überzeugung, dass Miss Beacham die Bilder woanders herausgenommen und hier neu zusammengetragen hatte, damit sie ihre eigene Geschichte erzählten, die für sie eine spezielle Bedeutung barg.
Es war die Geschichte von Lizzie und Kenny.
Lizzie Beacham war zehn Jahre alt gewesen, als Kenny auf die Welt kam.
Das erste Foto, eine Schwarzweißaufnahme vom 21. Juli 1960, zeigte die dunkelhaarige ältere Schwester, die ihren winzigen Bruder in den Armen hielt, den Blick zärtlich auf ihn gesenkt. Verblüfft starrte ich das Datum an. Erst jetzt begriff ich, dass ich mich in einem Punkt gründlich getäuscht hatte: Ich hatte sie für eine alte Frau gehalten, doch sie hatte gerade erst die Mitte fünfzig erreicht, als sie gestorben war. Demnach musste ihr Bruder, dem das Album gewidmet zu sein schien, in den Mittvierzigern sein.
Die Aufnahmen spiegelten Kenny Beachams frü hes Leben in allen Facetten wider. Sein erstes Picknick, sein erstes Weihnachten, sein erster Schultag waren dokumentiert worden, und sein pausbäckiges Gesicht lugte hinter einer ganzen Serie von Geburtstagskuchen hervor. Wenn Lizzie neben ihrem Bruder erschien, waren ihre Augen immer auf ihn, nie auf die Kamera gerichtet, und jedes Mal hatte sie dieses zärtliche Lächeln auf dem Gesicht – ihr Entzücken über ihn schien nie nachzulassen.
Mutter und Vater gesellten sich in Familienfotos zu Lizzie und Kenny, die sie im Londoner Zoo zeigten, auf den Stufen zum Britischen Museum und unter den Girlanden, mit denen die Städte zum silbernen Thronjubiläum der Königin geschmückt worden waren. Hamish war auch dabei. Aber nicht Lizzie hielt seine Pfoten fest umklammert, sondern Kenny. Immer wieder mal tauchte Hamish auf – an Kennys Faust baumelnd, fest von Kennys Armen umschlossen, auf Kennys Knien stehend –, bis er ab 1970 verschwand. Im Alter von zehn Jahren war Kenny seinem Kindheitsfreund offensichtlich entwachsen.
Eine Reihe von in regelmäßigen Abständen eingestreuten Fotos schien dem jährlichen Familienausflug zum Pier von Brighton gewidmet zu sein.
Vater, Mutter, Lizzie und Kenny standen mit zerzausten Haaren im Wind und grinsten in die Kamera, bis 1980 aus dem Quartett ein Trio wurde.
Auf einer Bildunterschrift hieß es: Unser erster Urlaub nach Vaters Tod . Fünf Jahre danach waren es nur noch zwei: Mutter in einem Rollstuhl, an ihrer Seite Lizzie mit einem liebevollen Lächeln. Doch für Kennys Fehlen wurde keine Erklärung geboten.
Auf dem nächsten und zugleich letzten Bild, einer Aufnahme von 1986, stand Lizzie ganz allein am Pier von Brighton. Darunter hatte Miss Beacham geschrieben: Mutter im Mai verschieden . Mein letzter Urlaub am Meer , zum Gedenken an glücklichere Zeiten .
Damit endeten die Fotos. Ich blätterte weiter vor und zurück, bis mich das Läuten von Kirchenglocken aus der Ferne in die Gegenwart zurückholte.
Es war zehn Uhr. Ich klappte das Album zu und blieb gedankenverloren im Sessel sitzen, die gefalteten Hände auf seinem Deckel, den Blick ins Leere gerichtet.
Ich hatte etwas gesucht, das aus Miss Beachams persönlichem Leben zu mir sprach. Und ich hatte es gefunden. Keine Erzählung hätte intimer sein können als das, was mir die Fotos offenbarten. Es war, als hätte sie aus dem Grab zu mir gesprochen.
Langsam wandte ich den Kopf, bis mein Blick erneut auf dem Zylinderpult ruhte. Miss Beacham hatte gewollt, dass ich dieses hübsche Möbelstück bekam. Sie hatte ausdrücklich geschrieben, dass es mich in vieler Hinsicht ansprechen würde. Auch Mr Moss hatte davon geredet, und zwar ganz so, als führte er Miss Beachams Anweisungen aus. »Meine
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