Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
Gabriel.
Ich begleitete die beiden bis zur Wohnungstür.
Als Gabriel an mir vorbeiging, sagte ich: »Sie werden Stanley die traurige Nachricht noch beibringen müssen. Ich bin leider nicht dazu gekommen.«
Gabriel blieb abrupt stehen. Einen Moment lang versuchte er mir in die Augen zu sehen, dann schritt er weiter zum Aufzug.
»Tschüs, Stanley«, sagte ich sanft.
Wieder allein, ließ ich mich gegen die Tür sinken und ging die letzten Momente noch einmal im Geiste durch. Auf einmal wurde mir ganz flau im Magen, als mich die Erkenntnis traf, wie unaussprechlich grob ich gewesen war. Wer war ich denn, ich, mit meinen zehntausend Fehlern, dass ich anderen vorschrieb, wie sie sich zu verhalten hatten? Hastig riss ich die Tür auf und rief: »Gabriel?«
Doch Gabriel war schon weg.
Fast wäre ich ihm gefolgt. Ich wollte mich entschuldigen, zugeben, dass meine Reaktion vollkommen unangebracht gewesen war: selbstgefällig, anmaßend, ungerecht. Ich wollte ihm erklären, dass ich mich nicht über ihn geärgert hatte, sondern über die dumme Welt, in der er lebte, in der Menschen Tür an Tür wohnen konnten, ohne einander zu kennen. Mehr als alles andere wollte ich ihm sagen, dass ich wirklich nicht ihm böse war, sondern dem Tod, weil er mir Miss Beacham viel zu früh entrissen hatte. Doch Gabriel war fort, und ich bezweifelte, dass er mir die Tür öffnen würde, wenn ich ihm folgte. Im Gegenteil, er würde sie wohl eher noch verrammeln. Und es wäre nicht das erste Mal, dass ich einen erwachsenen Mann mit meinem überschäumenden Temperament in die Flucht geschlagen hatte.
Mit dem Vorsatz, am nächsten Morgen eine reumütige Entschuldigung unter Gabriels Tür hindurchzuschieben, verstaute ich Miss Beachams Brief in der Umhängetasche, nahm meinen Regenparka aus dem Kleiderschrank und hielt auf die Travertine Road zu. Wenn ich die Nacht in Miss Beachams Gästezimmer verbringen wollte, musste ich mir noch ein paar Kleinigkeiten besorgen.
Eine Stunde später kehrte ich beladen mit Toilettenartikeln, einem Satz frischer Unterwäsche, einem Nachthemd, einer kleinen Schachtel Teebeutel, einem Milchkarton, einer Tüte Zucker und einer abgepackten Mahlzeit aus einem indischen Restaurant in Miss Beachams Wohnung zurück.
Die Läden in der Travertine Road hatten alles gehabt, was ich brauchte, auch wenn es nicht so vertraulich zugegangen war, wie ich es von Finch gewohnt war. Jäh befiel mich Heimweh, als ich an das Fincher Postamt dachte, wo jede noch so kleine Transaktion bis zu einer Stunde dauern konnte, nicht etwa wegen langer Warteschlangen oder schleppender Bearbeitung, sondern weil Peggy Taxman dringenden Diskussionsbedarf hatte, ob über Sally Paynes magentafarbenen Trainingsanzug, Christine Peacocks Besessenheit von UFOs oder die ungewöhnlichen Kräuter in Miranda Morrows Küchengarten. Aber wie ich das sah, war eine Stunde, die einen der Kauf einer Briefmarke kostete, ein geringer Preis angesichts der Wärme, die man bei echten Kontakten mit seinen Mitmenschen erfuhr.
Ich verteilte meine Einkäufe auf die Räume, in denen ich sie jeweils benötigte, dann setzte ich mich in die Küche, um dort das Chicken Tikka Masala zu verzehren – abgepackte Speisen hatten auf einem Esstisch von Hepplewhite nichts zu suchen. Das Masala schmeckte trotzdem vorzüglich und diente mir als neuerliche Erinnerung daran, dass Städte durchaus ihre Vorteile hatten – Finch war nicht gerade für die ethnische Vielfalt in seinen Kochtöpfen berühmt. Nachdem ich in der Küche sauber gemacht hatte, ging ich in den Salon, um mir Miss Beachams Bücher vorzunehmen.
In einem der Regale entdeckte ich das Notizbuch von Cynthia Asquith. Ich zog es heraus und trug es zum Zylinderpult, um dort ein bisschen darin zu schmökern. Als ich mich ans Pult setzte, stach mir der zerknüllte Papierball ins Auge, den Stanley in meine Richtung gestoßen hatte. Plötzlich überkam mich Sehnsucht nach der lustigen Gesellschaft des schwarzen Katers, und einmal mehr fragte ich mich, wo er sein Spielzeug gefunden hatte.
Nur der Neugierde halber strich ich das Papier glatt und verspürte jäh einen Stich im Herzen, als ich die Handschrift, die es bedeckte, erkannte. Es war eine kräftigere Version der zittrigen Buchstaben in Miss Beachams Brief. Aber eine später verworfene Nachricht an jemand anderen enthielt das zerknitterte Blatt nicht. Miss Beacham hatte darauf eine lange Liste von Namen vermerkt. Jedem folgte eine Zahl, doch eine Reihenfolge oder
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