Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
St.-
Benedict’s-Heim, Schwester Willoughby und Mr Barlow hinterlassen hatte.
Sie war eindeutig nicht die arme Rentnerin , für die du sie gehalten hast .
Ich nickte. »Bestimmt nicht. Ich war in ihrer Wohnung, und auch die ist nicht gerade die heruntergekommene Bruchbude, die ich erwartet hatte.
Das Haus selbst ist ganz nett, wenn auch in einem entsetzlich kalten, modernen Stil, aber die Wohnung ist nicht nur mit den herrlichsten Tapeten dekoriert, sondern auch mit unglaublich kostbaren Antiquitäten eingerichtet. Wenn sie mehr Geld gebraucht hätte, hätte sie es locker durch den Verkauf von einem oder zwei Stühlen auftreiben können. Sie war auch gar nicht so alt. Erst Mitte fünfzig.«
Eine schwere Krankheit kann einen vorzeitig altern lassen .
»Genauso wie Kummer.« Ich holte tief Luft und wappnete mich schon für Spott. »Ich glaube, dass ihr jüngerer Bruder Miss Beacham das Herz gebrochen hat, Dimity. Ich glaube, dass er ohne ein Wort des Abschieds aus ihrem Leben verschwunden ist und es nie für nötig befunden hat, wieder Verbindung mit ihr aufzunehmen. Und ich glaube, sie erwartet von mir, dass ich ihn aufspüre.«
Ich verstehe . Ich nehme an , du hast Gründe für deine Vermutung .
Ich stellte meine Argumentationskette so logisch dar, wie ich nur konnte: der Brief, der mich zum Pult geführt hatte; das Pult, das mich weiter an das Album verwiesen hatte; das Album, das mir die Geschichte von einem geliebten, verlorenen Bruder erzählte; ein Anwalt, der sich weigerte, sein Verschwinden wirklich ernst zu nehmen, und ihn wohl nie finden würde. Doch selbst in meinen Augen wirkte das alles sehr weit hergeholt. Umso verblüffter war ich, als Tante Dimity meiner Schlussfolgerung von ganzem Herzen zustimmte.
Du musst Kenneth aufspüren , falls das überhaupt möglich ist . Nichts anderes hat sich Miss Beacham von dir gewünscht .
Ich blinzelte überrascht. »Aber … warum hat sie mich nicht einfach darum gebeten? «
Darüber kann ich dir natürlich auch keine Gewissheit verschaffen , aber ich könnte mir vorstellen , dass sie dir die Aufgabe vergnüglich gestalten wollte . Nachdem sie deine Abenteuergeschichten gehört hatte , muss sie sich gesagt haben , dass es dir größeren Spaß machen würde , wieder mal eine harte Nuss zu knacken , als bloß eine einfache Bitte um Hilfe zu erfüllen . Auch könnte es ihr Freude bereitet haben , das Labyrinth zu entwerfen und dir ein kurzes Fadenende zu hinterlassen , dem du gerade so folgen kannst . Es kann aber auch sein , dass das Thema für sie zu schmerzhaft war , um offen darüber zu sprechen . Wenn sie es dir persönlich erzählt hätte , hättest du sie womöglich mit Fragen bedrängt .
»Stimmt«, gab ich zu. »Ich habe einen ganzen Sack voller Fragen in petto, die ich ihr jetzt gerne stellen würde. Das Einzige, was sie mir über ihren Bruder verraten hat, ist, dass er in Oxford auf ein College gegangen ist, aber ich weiß nicht, auf welches oder wann er dort studiert hat. Und Mr Moss nützt mir nichts. Als ich mich bei ihm über Kenneth informieren wollte, hat er mir nur zu verstehen gegeben, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern soll. Wie geht es nun weiter? Wo findet man Hilfe bei der Suche nach einer verschollenen Person?«
Ich würde mit dem Telefonbuch anfangen . Miss Beacham war nicht verheiratet . Demnach müssen sie und ihr Bruder denselben Nachnamen haben .
»Das habe ich schon getan«, sagte ich. »Vor der Heimfahrt habe ich in Miss Beachams Wohnung noch schnell im Oxforder Telefonbuch nachgeschlagen. Darin ist aber niemand unter dem Namen Kenneth Beacham verzeichnet.«
Hast du mit ihren Nachbarn gesprochen? Alleinstehende Frauen vertrauen sich oft Menschen an , die in ihrer Nähe leben . Vielleicht weiß ja jemand im Haus über Kenneth Bescheid .
Ich stieß ein verächtliches Schnauben aus.
»Wenn Miss Beacham in Finch gelebt hätte, wüsste ich jetzt Kenneths Größe, Gewicht, Schuhgröße und die Ergebnisse seines letzten Zahnarztbesuchs.
Alle wären auf dem Laufenden. Aber Oxford ist eine Stadt, Dimity. So was wie Nachbarn gibt es dort nicht. Ich habe mit einem Typen gesprochen, der seit vier Jahren in Miss Beachams Haus lebt und nicht das Geringste über sie wusste. Er hatte noch nicht mal gehört, dass sie im Krankenhaus war.«
Trotzdem würde ich mich in der Nachbarschaft umhören . Miss Beacham war einfach zu interessant , um keine Freunde zu haben .
»Was sind das für Freunde, die sie allein lassen, wenn sie im
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