Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
Anwaltskanzlei , bis bei ihr Krebs diagnostiziert wurde , woraufhin sie nach Oxford zog , um näher bei ihrem Bruder zu sein . Verstehst du den Nebensinn ihrer Entscheidung , Lori?
Bisher war er mir zumindest nicht aufgegangen.
Jetzt starrte ich verblüfft auf die vollgeschriebenen Zeilen hinunter. »Wenn sie nach Oxford gezogen ist, muss sie die ganze Zeit gewusst haben, wo er war.«
Eben . Wir nahmen an , er hätte sich in Luft aufgelöst . Stattdessen war er einfach nach Oxford gegangen , wo er in welchem Geschäftszweig auch immer Erfolg hatte – wie uns die teuren Anzüge und die exklusive Villa beweisen .
»Dann muss ich das Fotoalbum völlig falsch interpretiert haben«, stöhnte ich betreten. »Wenn Kenneth gar nicht verschwunden ist …«
Aber er ist doch verschwunden , Lori . Zweimal sogar . Dimity betonte ihr Argument, indem sie die königsblaue Tinte extradick auftrug. Zum ersten Mal mit Mitte zwanzig und dann wieder , als Miss Beacham nach Oxford gezogen ist . Und in beiden Fällen hat er sich nach einer Phase abgesetzt , in der die Geschwister gut miteinander harmoniert hatten .
Jetzt war ich vollends verwirrt. »Daraus werde ich nicht schlau. Du sagst ständig, dass Kenneth verschwunden ist. Wenn Miss Beacham aber wusste , dass er in Oxford war, wie …?«
Schon flog Dimitys elegante Kursivschrift über die Seite. Miss Beacham mag gewusst haben , wo Kenneth war , aber das bedeutet doch nicht notwendigerweise , dass es ihr erlaubt war , mit ihm Kontakt zu pflegen .
Ich blinzelte mehrmals schnell hintereinander, während mir langsam die Tragweite von Dimitys Worten dämmerte. »Willst du sagen, dass er sie mit seinem Umzug nach Oxford aus seinem Leben verstoßen hat? Dass er so getan hat, als hätte er keine Schwester? Dass er sie ignoriert hat?«
Es hat ganz den Anschein . Und offenbar hat Miss Beacham diese Bedingungen akzeptiert . Die Diagnose Krebs hat Kenneth dann gezwungen , die Regeln zu ändern – eine Zeit lang zumindest . Miss Beacham durfte in Oxford leben , wo sie zwei Jahre lang ihre alte Nähe wiederherstellten . Dann ging plötzlich irgendwas schief . Etwas muss am Ende dieser zwei Jahre geschehen sein , das Kenneth dazu veranlasste , sich erneut von ihr zu trennen . Aus welchem Grund würde ein Mann seine Schwester allein lassen , wenn er weiß , dass sie an einer tödlichen Krankheit leidet?
»Weil er ein Scheißkerl ist?«
Ich glaube , dass die Antwort um einiges komplexer ausfallen wird .
Ich ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken, und meine Augen wanderten von Reginald zu dem von Motten zerfressenen Stoffigel, mit dem er sich jetzt seine Nische teilte.
Mit einem Lächeln erinnerte ich mich an das Foto von Hamish in seinen besten Zeiten, als seine Knopfaugen funkelten, der Kilt noch tadellos gefaltet und sein Stofffell schön flauschig war. Seitdem war er gehörig durch die Mangel gedreht worden, und jede dieser Drehungen hatte ihre Spuren hinterlassen. Jetzt war der arme Kerl nur noch ein kläglicher Schatten seines früheren Selbst. Mein Blick verweilte auf ihm, bis ich mich jäh aufsetzte, weil mir eine neue Idee gekommen war.
»Blinker war gar nicht überrascht, als ich ihm erzählt habe, dass Miss Beacham tot ist«, sagte ich langsam. »Es kam mir so vor, als hätte er damit gerechnet. Er meinte, sie hätte große Augen gehabt.
Aber niemand sonst von den Leuten, mit denen wir heute gesprochen haben, war aufgefallen, dass es mit Miss Beacham zu Ende ging – nicht mal Joanna. Nur Blinker hat es gespürt.«
Wie schön , dass ein Mann wie er bestimmte Dinge so deutlich erkennen kann !
Mein Lächeln erstarb schnell. »Worauf ich eigentlich hinauswill, ist, dass Kenneth vielleicht einer von der Sorte ist, die es nicht aushält, zuzusehen, wie ein geliebter Mensch immer mehr verfällt.
Vielleicht ist er ein zweites Mal weggelaufen, gerade weil seine Schwester krank war.«
Warum er beim ersten Mal weggelaufen ist , lässt sich mit Miss Beachams Krankheit aber nicht erklären , und ich bin der festen Überzeugung , dass seine beiden Fluchten miteinander in Zusammenhang gebracht werden können . Sie folgen demselben Muster – eine Phase der Nähe , der jeweils ein abrupter Bruch folgt . Natürlich ist es denkbar , dass Kenneths Beruf öfter einen Ortswechsel erfordert , aber ich kann mir keine Tätigkeit vorstellen , die von ihm verlangen würde , dass er den Kontakt mit dem einzigen noch lebenden Mitglied seiner Familie abbricht .
»Vielleicht können ja
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