Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
gemutmaßt hatte, keine brandneue Siedlung war, sondern schon seit gut und gerne zwanzig Jahren existierte. Auch war die Gegend gar nicht so protzig, wie es mich mein Informant hatte glauben lassen. In einem hatte er allerdings recht gehabt: Protziger als die Nachbarschaft der St. Benedict’s Church war sie allemal. Ohne Paläste zu sein, waren die Häuser doch groß, und die Gärten spiegelten den klischeehaften Geschmack von frisch in die obere Mittelklasse aufgestiegenen Bürgern wider: bescheidene Gartenlaube, bescheidener Brunnen und die üblichen Holzplanken inmitten eines mit peinlich genau beschnittenen Blumenbeeten gesprenkelten Rasens.
In der Crestmore Crescent, einer Sackgasse, gab es sieben Häuser, aber nur eines davon wurde von zwei die gepflasterte Auffahrt flankierenden Betonlöwen bewacht. Bei Nummer 6 handelte es sich um eine zweistöckige Imitation des Tudor-Stils mit daran angebauter Doppelgarage und einem unbestimmten Wappen über der Vordertür. Gabriel parkte den Rover vier Auffahrten von den Löwen entfernt und stellte den Motor ab.
Ich hatte schon den Türgriff in der Hand, als ich innehielt. Ein merkwürdiges Gefühl hatte mich beschlichen. Ein Blick nach rechts verriet mir, dass es Gabriel ähnlich erging.
»Es ist ruhig«, murmelte er mit Grabesstimme.
» Zu ruhig.«
Ich kicherte. »Die Travertine Road ist das hier eindeutig nicht. Leute wie Mr Blascoe oder Mr Jensen wollen ja, dass Fremde zu ihnen in den Laden spazieren, aber das hier sind private Eigenheime. Hoffentlich verärgern wir niemanden. Und hoffentlich hält uns keiner für Versicherungsagenten.«
»Oder Missionare«, grinste Gabriel.
Wir begutachteten jeder die Kleidung des anderen und stellten fest, dass uns Gabriels Ausstattung aus weitem Rollkragenpullover und Jeans sowie mein blauer Fleecepullover über der schwarzen Cordhose zusammen mit unseren Regenjacken am ehesten wie Studenten aussehen ließen.
»Leute, die in oder nahe bei Oxford leben, sind in der Regel freundlich zu Studenten«, überlegte Gabriel. »Ich bezweifle, dass jemand gleich seine Hunde auf uns hetzt.«
»Trotzdem solltest lieber du mit ihnen reden«, bat ich ihn. »Ich möchte niemanden mit meinem Akzent verschrecken.«
»Alles klar.« Gabriel holte tief Luft und öffnete die Fahrertür. »Dann auf ins Gefecht.«
Wir begannen mit den Haustüren am Ende der Sackgasse und arbeiteten uns allmählich zur Nummer 6 vor. In den ersten zwei Häusern reagierte niemand auf unser Klingeln, und die dritte Tür wurde zwar von einer Putzfrau geöffnet, doch die kam immer aus Woodstock zum Arbeiten her und hatte noch nie von einem Kenneth Beacham gehört.
Erst als wir das vierte Haus erreichten, sahen wir uns einer echten Anwohnerin gegenüber, einer großen, stattlichen Frau in den Mittfünfzigern, bekleidet mit einem fließenden farbenprächtigen Kaftan und golden schimmernden Sandalen. An ihren Fingern prangten mit Juwelen besetzte Ringe, ihre Haare waren kunstvoll toupiert, die Finger-und Zehennägel perfekt gefeilt und lackiert, und ihr Gesicht war makellos geschminkt. Für zehn Uhr vormittags wirkte ihre Aufmachung etwas übertrieben, aber vielleicht hatte sie ja jemanden zum Brunch eingeladen.
Gabriel lächelte sie freundlich an. »Guten Morgen. Mein Name ist Gabriel Ashcroft, und das ist meine Kollegin Lori Shepherd.«
»Guten Tag«, sagte ich, um einen möglichst neutralen Akzent bemüht. »Hoffentlich stören wir Sie nicht gerade …«
»Nein, nein, ich bin eigentlich allein. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir versuchen, jemanden ausfindig zu machen«, erklärte Gabriel, »einen Herrn, der bis vor etwa fünf Jahren in der Crestmore Crescent Nummer 6 gewohnt hat.« Er deutete auf das Pseudo-Tudor-Haus zwei Häuser weiter. »Seine Schwester ist kürzlich gestorben, und jetzt würden wir ihm gern die traurige Nachricht mitteilen, haben aber Schwierigkeiten, ihn zu erreichen. Kannten Sie zufällig …?«
»Sprechen Sie über Kenneth?«, unterbrach ihn die Frau.
Gabriel blinzelte.
»Ja«, sagte ich hastig.
»Aber natürlich kannte ich Kenneth!«, rief die Frau. »Seine Frau war eine meiner liebsten Freundinnen. Es tut mir schrecklich leid, vom Ableben seiner Schwester zu hören. Möchten Sie nicht reinkommen?«
Ich musste Gabriel einen Stups geben, damit er sich über die Schwelle wagte, aber zu guter Letzt hingen unsere Jacken an der Flurgarderobe, und wir saßen auf weißen Korbstühlen in einem an der Rückseite des Hauses angebauten
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