Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
Wintergarten mit Glaswänden und weißem Teppich. Die Frau stellte sich uns als Mrs Beryl Pollard vor, bot uns eine Auswahl von Getränken an und verzog sich dann in die Küche, um Tee zu kochen.
»Weißer Teppich«, raunte Gabriel, als sie weg war, »und kein einziger Fleck darauf.«
»Keine Kinder«, flüsterte ich zurück. »Oder sie hat sie im Keller eingesperrt.«
Wenig später schob Mrs Pollard einen Teewagen herein, beladen mit einer silbernen Teekanne, weißen Porzellantassen und Untertassen und einem Teller voller Kekse, die ich hier in England als »di-gestive biscuits« kennengelernt hatte. Nachdem sie alles auf der Glasplatte des Kaffeetischs arrangiert hatte, der wie die Sessel aus Korbgeflecht war, nahm sie uns gegenüber Platz, schenkte uns ein und lehnte sich entspannt zurück. Ich war zutiefst beeindruckt. Wenn ich mit einem wallenden Kaftan bekleidet versucht hätte, so viele komplexe Tä tigkeiten auszuführen, wäre ich mit dem Ärmel an der Teekanne hängen geblieben, über den Saum gestolpert und zusammen mit dem zarten Porzellan auf den weißen Teppich geknallt.
»Ich gestehe, ich wusste nicht, dass Kenneth eine Schwester hatte«, informierte uns Mrs Pollard. »Er hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Dorothy genauso wenig. Waren sie einander so fremd geworden?
Es ist so schrecklich schade, wenn es so weit kommt. Familienbande sollten unverletzlich sein, finden Sie nicht auch? Natürlich können einzelne Familienmitglieder bisweilen extrem schwierig sein.
Meine Schwester und ich sprechen seit zehn Jahren nicht mehr miteinander, und das alles nur wegen eines albernen Streits über ein Blumenarrangement.
›Livia‹, habe ich ihr gesagt, ›deine Rosen sind zu groß‹, und bevor ich wusste, was los war, hat sie mich mit Schimpfworten eingedeckt, die mir in guter Gesellschaft nie über die Lippen kommen würden. Ich habe ihr natürlich vergeben, aber seitdem ist es zwischen uns nicht mehr so, wie es frü her einmal war. Das ist wirklich sehr traurig.«
Der Monolog floss in einem so steten, unaufhaltsamen Strom, dass ich mir sagte, Mrs Pollard müsse entweder entsetzlich einsam sein oder seit Tagesanbruch fleißig der Flasche zugesprochen haben. Beide Szenarios hätten zumindest erklärt, warum sie Gabriel und mich so bereitwillig ins Haus gelassen hatte.
»Ah, was Kenneth betrifft …«, begann ich, worauf sie erneut loslegte.
»Der liebe Kenneth! Übermäßig gut aussehend ist er ja nicht, wissen Sie, eher normal und mit Bauch, um ehrlich zu sein, aber er versteht es, sich zu kleiden, und das ist mehr als die halbe Miete, finden Sie nicht? Wer kann schon einem Mann in einem Anzug aus der Savile Row widerstehen? Dorothy nannte das seine Investorenkluft, und dar über haben wir furchtbar gelacht, denn das ist ja sein Beruf: Er tätigt mit dem Geld anderer Leute kluge Investitionen. Seine Schwester ist gestorben, sagen Sie? Wie tragisch. Und wie seltsam, dass Dorothy mir nie von ihr erzählt hat. Hat sie zufällig im Ausland gelebt? Nun ja, bei einem derart ausgefüllten Leben, wie Dorothy es führt, kann man natürlich nicht erwarten, dass sie sich an alles erinnert.« Mrs Pollard hielt inne, um an ihrem Tee zu nippen.
Diese Pause wollte ich nutzen. »Kenneths Schwester lebte in Oxford.«
»Nicht im Ausland? Wie seltsam. Aber wie ich schon sagte, Dorothy ist viel zu beschäftigt, um sich an alles zu erinnern. In der Zeit, in der sie hier lebte, ging es bei ihr ständig hoch her: Bridge-Partys, Gartenpartys, Galadinner, Bälle – und das alles, um für die angesehensten karitativen Einrichtungen Spenden zu sammeln. Und dann die Stunden, die sie damit verbrachte, Kenneths Kunden zu unterhalten! Sie hatte nicht eine Stunde für sich allein. Ich habe sie sehr bewundert. Nicht nur ich, wir alle hier in der Crescent. Dorothy hat sich nach Kräften für gute Zwecke eingesetzt und dafür gesorgt, dass ihr Sohn die richtigen Leute kennenlernt, und darauf kommt es doch an, finden Sie nicht? Sie hat ihren Sohn vergöttert.«
»Walter James?«, flocht ich hastig ein.
»Der liebe Walter, so ein netter Junge!«, schwärmte Mrs Pollard. »Ich habe natürlich nicht viel von ihm gesehen, seit er mit acht aufs Internat ging, eine Eliteschule natürlich, aber gelegentlich ist er nach Hause gekommen, zu ein paar Weihnachtsfesten, und wenn er hier war, war er wirklich unglaublich charmant! So höflich, so gewitzt, und um einiges attraktiver als sein Vater! Er geht eher nach Dorothys Vater, um ehrlich zu
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