Tante Inge haut ab
Magen presste, war Heinz abrupt aufgestanden.
»Ich leg mich mal für eine Stunde aufs Ohr, ich bin völlig kaputt. Vielleicht sollten gewisse Leute hier am Tisch mal darüber nachdenken, dass ich kein junger Mann mehr bin, der solche Aufregungen und Geheimniskrämereien locker wegsteckt.«
Langsam schleppte er sich zur Tür und ging raus. Charlotte stand seufzend auf.
»Ich komme gleich wieder. Nehmt euch noch Kaffee.«
Inge atmete tief aus und lehnte sich zurück. »Johann, Sie müssen nicht glauben, dass es immer so ist. Eigentlich sind wir ganz friedlich.«
Er lachte. »Das hat Christine auch schon mehrfach betont. Ich kann das ab, in meiner Familie gibt es auch genug Verrückte ... Entschuldigung«, er sah Inge und Christine betreten an, »so war das nicht gemeint.« »Schon gut.« Inge stützte ihr Kinn auf die Hand und sah ihre Nichte an. »Hältst du mich für verrückt?«
»Nein«, Christine suchte nach einer geeigneten Formulierung, »nur für verändert. Also irgendwie bist du ganz anders als sonst. So ... wie soll ich das sagen?... als ob du irgendwas vorhast, was für dich nicht gut ist... also, ich meine ...«
Inge unterbrach sie sehr bestimmt. »Ob etwas gut für mich ist oder nicht, kannst du gar nicht beurteilen, Kind, weil du gar nicht weißt, was ich vorhabe. Habt doch mal ein bisschen Vertrauen zu mir, es hat doch überhaupt nichts mit euch zu tun, wenn ich mein, mit Verlaub, furchtbar langweiliges Leben verändern muss.«
Charlotte hatte beim Eintreten die letzten Worte gehört. »Du musst dein Leben verändern?«
»Ja«, sagte Inge mit ernster Miene, »viel Zeit habe ich ja auch nicht mehr.«
Mutter und Tochter zuckten zusammen, Johann veränderte nur leicht seine Sitzhaltung.
»Wieso?«
Christine hatte sich getraut zu fragen. Inge antwortete gleichmütig: »Ich bin 64. Mit Glück habe ich noch einige schöne Jahre, mit Sicherheit aber nicht mehr so viele wie mit dreißig.«
»Aber du fühlst dich doch gut, oder?« Charlotte sah ihre Schwägerin forschend an.
Die nickte erstaunt. »Sicher.«
»Und wieso machst du hier dann Termine bei verschiedenen Ärzten?«
Inge blinzelte kurz und zog die Stirn in Falten, dann holte sie Luft und fragte mit fester Stimme: »Und wieso spioniert ihr mir nach?«
Jetzt wurde es selbst dem gelassenen Johann zu viel. Er stand auf. »Ich gehe laufen. Bis später.«
Christine dachte kurz, dass es vielleicht besser wäre, ihm zu folgen, entschied sich dann aber dagegen. Sie wartete, bis sie ihn auf der Treppe hörte, und sagte dann: »Er glaubt mir nie im Leben, dass ich eine reizende und völlig normale Familie habe. Tante Inge, wir wollen jetzt endlich wissen, was mit dir los ist. Bist du krank? Hast du Onkel Walter deshalb verlassen? Hast du vor irgendetwas Angst? Rede doch endlich.«
»Nein, verdammt!«, Inge schlug mit der flachen Hand so auf den Tisch, dass die Tassen klirrten. »Ich will nicht reden. Noch nicht, das habe ich schon hundertmal gesagt. Und behandelt mich nicht, als wäre ich grenzdebil. Ich rufe mir gleich ein Taxi. Hört auf zu fragen.«
Christine war bei diesem Ausbruch zusammengezuckt, ihre Mutter war blass geworden. Sehr beherrscht sagte sie: »Das musst du wissen. Aber ich möchte dich daran erinnern, dass du einen Bruder hast, der sich wirklich Sorgen um dich macht.«
»Den vergesse ich nie, sei gewiss. Ich gehe noch zur Toilette, dann möchte ich los. Du kannst mich eigentlich auch fahren, Christine.«
Christine nickte und sah ihre Mutter an. Die schwieg, bis Inge draußen war. »Wenn ihr weg seid, rufe ich Onkel Walter an. Es langt. Ich will jetzt wissen, was los ist.«
Charlotte ließ die Gardine in der Küche zurückfallen, als Christines Auto nicht mehr zu sehen war. Sie nahm sich eine Tasse Kaffee mit ins Wohnzimmer und tippte die Nummer von Walter ins Telefon. Nach fünf Freizeichen meldete er sich.
»Müller.«
»Hallo Walter, hier ist Charlotte.«
»Na, das ist ja mal nett, Charlotte. Wir haben uns ja lange nicht gehört. Und? Wie geht es euch? Alles in Butter ? Viel Arbeit im Garten?«
»Ja, ja, alles gut. Sag mal, Walter, wieso bist du eigentlich nicht mitgefahren?« »Wohin?«
>WaIter! Nach Sylt! Warum ist Inge allein hier? Was ist eigentlich los?«
Schweigen. Charlotte zählte bis fünf.
»Walter? Hast du aufgelegt?«
»Nein, ich bin noch dran. Ja, warum bin ich nicht mitgefahren? Ich hatte so viel zu tun. Pias Steuererklärung ist noch nicht fertig, weißt du, sie ist so dermaßen schlampig.
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