Tante Inge haut ab
Kopfschüttelnd packte sie ihre Utensilien in ihre Handtasche.
»Inge?« Die Stimme ihres Bruders klang sehr streng.
»Ja, Heinz, ich kann nach Hause. Es ist alles in Ordnung, du musst dir keine Sorgen machen.«
»Woher kennst du Mark Kampmann?«
Einen ganz kleinen Moment lang hielt Inge inne, dann zog sie ihre Jacke an.
»Zufall. Erzähl ich dir später mal. Jetzt will ich hier raus.«
Charlotte hatte vorgeschlagen, zunächst zu ihnen zu fahren und erst mal in Ruhe Kaffee zu trinken. Sie hatte Inge überreden müssen, vor allen Dingen, nachdem Heinz verkündet hatte, er fahre danach zu Petra, um Inges Sachen zu holen und die Rechnung zu bezahlen. »Das ist mir dort einfach zu unsicher. Du bleibst jetzt bei uns, basta.«
Seine Frau beobachtete Inges Gesichtsausdruck im Rückspiegel. »Heinz, oben schlafen Christine und Johann. Inge kann ja wohl nicht im Lesesessel übernachten. Und unten ist kein Platz.«
»Wieso denn nicht? Das Wohnzimmer ist groß genug, und die Couch kann man ausklappen. Wir haben früher zu fünft in dem Zimmer geschlafen, dann kann sie das ja wohl jetzt auch allein machen.«
»Heinz«, Inge wirkte müde, »früher standen da zwei Etagenbetten, und wir waren Kinder. Ich bleibe bei Petra, ich brauche meine Ruhe, und zweimal hintereinander steigt kein Einbrecher irgendwo ein.«
»Ha!« Heinz drehte sich auf dem Beifahrersitz zu Inge um. »Als ob du dich mit Kriminalstatistiken auskennst. Dass ich nicht lache!«
Charlotte schaltete einen Gang zurück, als sie das Ortsschild passierte. »Kennst du dich etwa besser aus? Jetzt lass deine Schwester mal in Ruhe, du siehst doch, dass sie erschöpft ist.« Sie sah im Rückspiegel den dankbaren Blick ihrer Schwägerin. »Wir trinken jetzt in Ruhe Kaffee, und dann sehen wir weiter.« »Charlotte, es geht mir gut, ich soll mich nur nicht aufregen. Lasst mich einfach ein paar Tage ungestört Ferien machen. Mehr will ich im Moment gar nicht. Höchstens noch ein kleines Stück Käsekuchen, wenn noch was da ist.«
Charlotte nickte lächelnd und beschloss, dass sie an diesem Tag nicht mehr nach den eigenartigen Arztterminen fragen würde. Dazu würde sich bald eine Gelegenheit ergeben. Vielleicht war es auch besser, wenn Heinz nicht dabei war.
Er schnaubte. »Ferien! Ungestört! Weißt du, was ich glaube? Du steckst in Schwierigkeiten. Ich sage nur Mark Kampmann. Ich bin 73 Jahre alt und habe noch nie einen Anwalt gebraucht. Und du bist fast zehn Jahre jünger und hast schon wieder einen. Da stimmt doch was nicht. Halte mich nicht für blöd.« Er drehte sich wieder um und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Ich kenne dich.«
»Heinz. Den letzten Anwalt habe ich gebraucht, als mir dieser Vertreter im Parkhaus in Essen-Herdecke in die Seite gefahren ist und Fahrerflucht begangen hat. Das ist jetzt zwanzig Jahre her.«
»Ich brauchte noch nie einen Anwalt.«
»Schön für dich.«
»Jetzt hört endlich auf.« Charlotte schlug ungeduldig aufs Lenkrad. »Wie alt seid ihr eigentlich?«
Sie fuhr in die Auffahrt und stellte den Motor aus. Vor ihr parkten Johann und Christine. »Die Kinder sind auch schon da, jetzt hört auf, euch zu streiten.«
»Ich streite nicht.« Heinz ließ den Sicherheitsgurt mit Schwung in die Halterung knallen. »Das ist Inge. Sie ist komisch.«
Seine Schwester antwortete nicht, sondern schlug die Autotür nur lauter als nötig zu.
»Und mein Auto ist kein Bus! Das geht auch leiser.« Heinz stieg aus und schob die Tür sanft ins Schloss. »Siehst du? Lass deine Launen nicht an meinem Auto aus.« Christine und Johann sahen zu, wie Heinz mit beleidigten Schritten ins Haus ging.
»Was ist denn nun los?« Johann nahm Inge ihre Tasche ab. »Geschwisterkrieg?«
Sie winkte ab. »Ach, er kriegt sich schon wieder ein. Wenn er nicht über alles Bescheid weiß, macht ihn das unruhig. Aber wenn er mich so umsorgt, geht mir das auf die Nerven. Also, von daher ist er mir beleidigt im Moment sogar lieber.«
Johann ließ sie vor sich eintreten, während Christine auf ihre Mutter wartete.
»Und?« Sie sah Charlotte neugierig an. »Hast du sie gefragt, warum sie bei den Ärzten war?«
»Nein«, Charlotte sah Inge nach, »dein Vater wäre dann sicher restlos durchgedreht. Ich warte auf eine bessere Gelegenheit. Aber eigenartig finde ich es schon.«
Die Gelegenheit kam früher, als Charlotte erwartet hatte. Nach dem Kaffeetrinken, was in gespannter Atmosphäre verlief, weil er keinen Ton sagte und sich lediglich die Hand auf den
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