Tante Inge haut ab
und rannte wieder zurück. Renate schrie auf und taumelte, wieder griff Inge im letzten Moment nach ihrem Ellenbogen. Mit aufgerissenen Augen und ans Herz gepresster Hand blieb Renate stehen und sah sich um. »Wem gehört diese gottverdammte Töle? Ich habe hier fast einen Herzinfarkt gekriegt.« Sie hatte gebrüllt.
Inge hielt immer noch ihren Arm. »Beruhige dich, es war nur ein kleiner Hund. Guck doch mal, der hat sogar zu deinen Schuhen gepasst.«
»Bloß ein Hund! Die sollen dieses Vieh anleinen. Das ist ja lebensgefährlich.«
»Ja, ja«, etwas ungeduldig zog Inge Renate weiter, »es ist doch nichts passiert. Jetzt komm, die Leute gucken schon.«
»Ja und?« Renate entzog ihr den Arm und sah sich um. »Sieh mal da vorn. Die alte Frau mit den beiden Kindern. Diese Misttöle gehört denen.« Sie beschleunigte ihre Schritte und marschierte auf die Gruppe zu. Inge beeilte sich, hinterherzukommen.
»Gehört Ihnen dieser Köter?«
Ein etwa zwölfjähriges Mädchen hob den Kopf. »Ja, das ist Oma Margrets Hund. Warum?«
»Er hat mich angefallen.«
»Renate. Bitte.« Inge lächelte die Frau, die unter einem Sonnenschirm saß und gelesen hatte, an. Sie waren ungefähr im selben Alter. »Entschuldigen Sie, aber meine Freundin hat sich furchtbar erschrocken, als das Tier so plötzlich von hinten angesaust kam.«
Margret musterte Renate, dann ihren Hund und fing an zu lachen.
»Angefallen?«, fragte sie. »Sagen Sie bloß. Das hat er noch nie hinbekommen. Das tut mir leid. Mädels, ihr wolltet doch auf Rosine achten.«
Der Hund hieß tatsächlich Rosine. Renate warf einen bösen Blick auf die Gruppe, drehte sich um, murmelte: »Man sollte dem Vieh den Hals umdrehen«, und stapfte zornig weiter.
»Sie meint es nicht so«, sagte Inge verlegen, »das war nur der Schreck.« »Lassen Sie nur«, Margret kraulte dem Hund, der sich rücklings in den Sand geworfen hatte, den Bauch, »ich kann diese kleinen Kläffer eigentlich auch nicht leiden, aber er ist mir zugelaufen, und die Mädchen hängen jetzt so an ihm.«
»Sind das Ihre Enkelinnen?«
»Nein«, sie schaute kurz zu den beiden, »ich habe noch nicht mal Kinder. Wir wohnen nur im selben Haus. Wenn ihre Eltern arbeiten, kommen sie manchmal zu mir zum Essen. Ich bin so eine Art Ersatzoma.«
Inge musterte die beiden blonden Mädchen. »Ach, das hätte ich auch gern, endlich mal wieder Kinder im Haus. Man fühlt sich sonst schnell alt. Denke ich zumindest manchmal.«
»Ingeee!« Renate stand wieder am Flutsaum, ihre Stimme war röhrend. »Jetzt komm schon!«
Mehrere Strandspaziergänger drehten sich zu ihr um.
Inge winkte ihr zu und sagte bedauernd: »Ich muss weiter. Schönen Tag noch.«
»Ebenfalls. Tschüss.«
»Wenn Omas auf Enkel und Hund aufpassen, dann kann das ja nichts werden.« Renate guckte sich ein letztes Mal um, als Inge sie eingeholt hatte. »Das haben die nie im Griff.«
»Es war nicht die Oma. Und du hast sie als alte Frau tituliert, dabei ist sie nicht älter als ich.« Gespannt wartete Inge auf die Antwort, die prompt kam:
»Ich bitte dich! Die sah aber viel älter aus. Das ist doch gar kein Vergleich. Und woher weißt du, dass sie nicht die Oma ist?«
»Ich habe sie gefragt. Sie kümmert sich nur ab und zu um sie, es sind Nachbarskinder.«
»Das würde mir gerade noch fehlen.« Renate schnaubte durch die Nase. »Mich um fremde Blagen kümmern, schönen Dank auch.«
»Wenn man keine hat, ist das doch schön. Ich hätte gerne Enkelkinder, aber Pia denkt überhaupt nicht darüber nach. Vor Kurzem hat sie ihren Freund verlassen, er war ihr zu spießig. Dabei war das so ein netter Kerl.«
Renate blieb abrupt stehen und sah sie fassungslos an. »Inge! Was erzählst du denn für einen Schwachsinn? Es reicht doch, dass du so lange gebraucht hast, um aufzuwachen. Soll deine Tochter jetzt die Fehler ihrer Mutter wiederholen?«
»So viele Fehler habe ich gar nicht gemacht. Alles in allem war mein Leben bislang absolut in Ordnung.« Inge erwiderte gelassen Renates Blick. »Nein, wirklich. Ich habe nie etwas anderes behauptet.«
»Und was war dann in Bad Oeynhausen? Wir haben doch nächtelang geredet. Du hast mir erklärt, dass ich dir die Augen geöffnet habe. Du warst Feuer und Flamme, du wolltest zu neuen Ufern aufbrechen, das habe ich doch nicht geträumt!«
»Ja, sicher«, Inge zog an Renates Arm, damit sie weiterging, »das stimmt. Aber ich habe nie gesagt, dass alles Bisherige ein Fehler war. Ich habe nur gesagt, dass mein Leben so
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