Tante Inge haut ab
verabredet. Vielleicht war sie ja auch schon fertig. An der Rezeption wurde sie von der netten Bedienung von neulich begrüßt.
»Guten Morgen. Sie wollen bestimmt Frau von Graf abholen. Soll ich sie anrufen?« »Nein, nein«, Inge war beeindruckt, dass die junge Frau sie sofort erkannt hatte, »ich bin zu früh dran. Ich setze mich in den Garten, wenn ich darf.«
»Natürlich, möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«
»Sehr gerne, vielen Dank.«
Inge lächelte ihr zu und ging zu einem Tisch, der schon in der Sonne stand. Sie hatte sich vorgenommen, mehr Zeit mit Renate zu verbringen. Sie harten sich während der Kur so gut verstanden, und jetzt war Renate extra hergekommen, um ihr zu helfen. Das war schließlich nicht selbstverständlich. Auch wenn es nicht nötig gewesen war. Aber Renate konnte ja nicht wissen, dass Inge im Moment gar keine Hilfe brauchte. Trotzdem war es ein netter Zug von ihr, den Inge nicht einfach ignorieren konnte. Und wollte. Also harte sie heute Morgen zum Telefon gegriffen und im »Ulenhof« angerufen.
»Hallo Renate. Was hast du denn heute vor?«
Renates Stimme harte etwas verschnupft geklungen. »Wieso?«
Kurz angebunden harte Inge sie auch noch nicht erlebt.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht einen Spaziergang am Strand entlang machen, von Wenningstedt nach Westerland. Das dauert eine gute Stunde. Und danach gehen wir eine Kleinigkeit essen, ein bisschen bummeln und wieder zurück. Was meinst du?«
»Wie kommt das denn, dass du auf einmal Zeit für mich hast?«
Sie klang nicht verschnupft, sie klang beleidigt.
»Es tut mir leid, Renate, dass alles ein bisschen hektisch war. Also, was ist?«
»Wolltest du nicht einen kleinen Ausflug machen ? Aufs Festland?«
Inge schluckte. »Das hat sich vorerst erledigt. Ich meine, ich muss noch mal zum Arzt, wegen meines Kopfes, da wollte ich jetzt nicht wegfahren.« Es war nur eine ganz kleine Lüge. Dr. Keller hatte lediglich gesagt, wenn es ihr in den nächsten Tagen nicht gut ginge, sollte sie noch mal vorbeikommen.
»Aha«, Renate überlegte, »... na gut. Holst du mich ab? Ich habe den Porsche nicht getankt.«
Und ich habe gar kein Auto, hatte Inge gedacht, dann aber gesagt: »Ja, klar. Ich bin gegen elf Uhr bei dir, dann ist Ebbe, und man kann schön laufen.«
Schließlich wollte sie sich Mühe geben.
Renate kam mit klackernden Absätzen um die Ecke. »Da bist du ja. Wartest du schon lange?«
Inge sah auf die Uhr, halb zwölf, und schüttelte den Kopf. »Ein paar Minuten. Und ich habe einen Kaffee bekommen.«
Es war eigentlich eine Unart, immer und überall zu früh zu kommen. Walter betrieb das mit einem derartigen Ehrgeiz, dass Inge das mittlerweile automatisch ebenso machte.
»Ich habe gern den besten Platz«, pflegte er zu sagen, wenn sie viel zu früh zu einem Essen kamen und von der Hausfrau noch im Bademantel empfangen wurden oder wenn sie im Regen vor den verschlossenen Türen des Theaters standen. »Nachher bist du mir dankbar, Inge, und dieses Abhetzen ist doch auch nichts.«
Wieso dachte sie heute überhaupt so oft an Walter ?
»Inge?« Renate hatte sich vor ihr aufgebaut. »Was ist? Wollen wir los, oder willst du noch ein bisschen träumen?«
»Nein«, sofort stand Inge auf, »wir können los.« Sie nahm Renate erst jetzt richtig wahr. »Hast du noch andere Schuhe dabei?«
»Wieso?« Renate streckte ihr Bein nach vorne und musterte zufrieden die schwarz-weiß gemusterten Pumps. »Die sind doch wunderbar.« Das Muster wiederholte sich in ihrem wallenden Oberteil, das sie zu einer weißen Bermudajeans trug.
Schon schick, dachte Inge, sagte aber: »Kannst du denn mit zehn Zentimeter Absatz im Sand laufen?« »Wieso Sand?«
»Am Strand ist Sand. Und ich habe doch gesagt, wir machen eine schöne Strandwanderung nach Westerland.«
»Ja, ja«, Renate sah auf Inges bequeme Tunschuhe, »falls mir der Sand die Schuhe ruiniert, ziehe ich sie einfach aus und gehe barfuß. Dass du dich in diesen alten Tretern wohlfühlst, verstehe ich überhaupt nicht. Schöne Schuhe haben doch auch was Sinnliches. Deine sehen ja aus, als würdest du Einlagen tragen.«
»Tue ich auch.« Inge wippte kurz auf den Zehenspitzen. »Seitdem habe ich keine Rückenschmerzen mehr. Und im Übrigen bin ich zehn Jahre älter als du, warte mal ab, ob du in ein paar Jahren immer noch mit solchen Absätzen laufen kannst.«
»Darauf kannst du Gift nehmen«, Renate setzte sich entschlossen eine weiße Schirmmütze auf, »und wenn ich vorher
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