Tante Inge haut ab
nicht mehr in Ordnung ist. Dass da was falsch läuft. Und dass ich mir was überlegen muss. Ich habe nichts gegen Kinder. Und schon gar nichts gegen Enkelkinder.«
»Dummes Zeug! Werner hat eine Tochter aus erster Ehe, die musste vor sieben Jahren unbedingt so eine Blage in die Welt setzen. Und was ist passiert? Wir sind auf einem Geburtstag eingeladen, sehr elegant, sehr vornehm, ich im Silberlameekleid von Jil Sander, als Josi, also Werners Tochter, auf mich zukommt. >Mäuschen, geh mal zu Oma<, sagt sie, setzt mir dieses dicke Kind auf meinen Schoß, und alle gucken. Oma! Ich war noch keine fünfzig. Und dieses dicke Kind reiherte mir zum Dank auch noch aufs Kleid. Ich war um halb zehn zu Hause. Nein, besten Dank. Ich weiß schon, warum ich keine Kinder habe.«
Inge schwieg. Unvermittelt musste sie an Till denken. Der kleine Junge hatte manchmal schon so erwachsene Augen. Es war nicht einfach für Anika, als alleinerziehende Mutter ihr Leben zu organisieren. Da war kein Platz für ein Kleid von Jil Sander. Und eigentlich auch zu wenig Platz für ihren kleinen Sohn. Dabei gab es so viele ältere Menschen, die nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Das war doch nicht gerecht.
»Inge?« Renate war stehen geblieben. »Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken? Ich habe gedacht, wir unterhalten uns mal ein bisschen, stattdessen marschierst du stumm und mit einer Grabesmiene neben mir her. Das ist ziemlich langweilig.«
»Wieso Grabesmiene? Unsinn. Ich habe nur gerade an etwas gedacht. Entschuldige.«
»Ich will gar nicht wissen, woran du gedacht hast. Aber komm nicht auf die Idee, mich mit deiner schlechten Laune anzustecken. Außerdem habe ich kalte Füße. Dieser Sand ist richtig klamm, und ich renne barfuß durch die Gegend. Das ist wirklich zu blöd.«
»Renate, ich habe keine schlechte Laune. Und gegen deine kalten Füße kann ich auch nichts machen. Vielleicht sollten wir schneller gehen.«
Renate betrachtete ihre Zehen und grub sie in den Sand. »Sie sind schon ganz weiß. Wie abgestorben. Ich hole mir hier den Tod.«
»Sag mal, Renate«, Inge beobachtete die kleinen Sandhaufen, die Renates Zehen hinterließen, »hast du schon mal etwas über diese Mehrgenerationenhäuser gelesen?«
»Über was?«
»Diese Häuser, in denen mehrere Generationen zusammenleben, wie der Name schon sagt. Ich habe da mal einen Artikel darüber gelesen. Das klang alles sehr gut. Weißt du, man kann sich da gegenseitig helfen. Nimm als Beispiel die beiden Mädchen von eben. Vielleicht sind die Eltern berufstätig und haben wenig Zeit, dann kann doch so eine Ersatzoma mal einspringen. Auf der anderen Seite kommt ja die Zeit, wo uns Älteren gewisse Dinge immer schwerer fallen: Einkäufe, Gartenarbeiten, Reparaturen im Haus, dann können sich die Jüngeren revanchieren. Ein Mieter hilft dem anderen, das ist doch sehr schön.«
Renate sah Inge an, als wäre sie nicht ganz dicht. »Du hast vielleicht Ideen! Das ist nicht schön, das ist grauenhaft. Wir hatten jahrelang meine demente Großmutter im Haus. Sie hatte das größte Zimmer und alle unter ihrer Knute. Ich habe mich immer gefragt, warum mein Vater sie nicht einfach erschlagen hat, sie ist erst mit 101 vor einen Bus gelaufen. Da hat sie, glaube ich, gerade die Russen eingekesselt. Oder sonst was in der Art.«
»Aber für deine Großmutter war das doch schön. Also, dass sie nicht in einem Altenheim leben musste, sondern mit jungen Leuten zusammen.«
»Pah!« Renate ging langsam weiter. »Was heißt hier junge Leute? Mein Vater war damals siebzig. Uns Kinder hat sie frühzeitig aus dem Haus getrieben. Sie hat ihren Schwiegersohn, also meinen Vater, gehasst und meinen Bruder im Übrigen auch, weil der genauso aussah. Ich durfte keine laute Musik hören und keine Hosen tragen, und überhaupt wollte sie uns eigentlich nie sehen. Es war nur leider ihr Haus, meine Eltern konnten sich kein eigenes leisten. Also mussten wir springen und für sie einkaufen, ihre Möbel verschieben, Gardinen waschen, Briketts hochschleppen, dauernd was Neues. So viel zum Mehrgenerationenhaus. Ein einziger Albtraum.«
»Na ja, mit Familie ist es auch schwierig. Aber wenn man freiwillig zusammenzieht, also alte Leute mit jungen Eltern, die sich sympathisch finden, das wäre doch ganz was anderes.«
»Inge«, Renate seufzte, »vergiss es. Den ganzen Tag fremde Kinder um dich herum, die vermutlich hyperaktiv sind, deine Gartenrosen niederwalzen und dein Geld klauen, um sich davon
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