Tante Inge haut ab
sich jetzt zurück.«
»Nie im Leben«, antwortete Christine und griff wieder nach der Zeitung, »er hat nur Schiss vor Inges Reaktion, wenn Walter nachher vor ihr steht.«
»Was glaubst du? Wie reagiert sie?«
Christine sah ihn über die Zeitung hinweg an. »Ich glaube nicht, dass sie vor lauter Wiedersehensfreude in Tränen ausbrechen wird. Jedenfalls möchte ich bei dieser Familienzusammenführung nicht unbedingt dabei sein.«
Dann beobachtete sie durch das Küchenfenster ihren Vater, der sich im Gehen seine Schirmmütze aufsetzte und die Richtung zum Hafen einschlug. Er ging mit hängenden Schultern. Christine hoffte, dass Inge Walter wenigstens eine kleine Chance gab. *
Inge stand seitlich vor dem Spiegel und zog den Bauch ein. Wenigstens so gut es ging. Dann atmete sie verwundert wieder aus. Was doch neue Wäsche auslöste. Und sie trug sich sogar sehr angenehm. Natürlich war alles vernünftig geschnitten und entsprechend ihrem Alter ausgesucht. Das harte die freundliche Verkäuferin extra betont, die Inges Verlegenheit bemerkte, als Renate ihr eine sehr modische Garnitur in die Umkleidekabine reichte. Sie war so ein Hauch, sah noch nicht mal aus wie Unterwäsche. Inge war ja wirklich nicht mehr jung. Aber jetzt trug sie hübschere Wäsche als je zuvor. Und sie fühlte sich ganz wohl damit. Trotz ihres kleinen Bauches und der runden Hüften. Sie wollte überhaupt nicht mehr dreißig sein. Oder gar zwanzig. Aber sie wollte noch Zeit haben. Zeit für Dinge, die sie in den letzten Jahren vergessen harte. Obwohl ... eigentlich hatte sie sie nicht vergessen, sie hatte nur gedacht, sie könnte sie ja immer noch irgendwann mal machen. Jetzt war sie 64, und für einige Dinge war es Zeit. Höchste Zeit. Weil sie sie sonst gar nicht mehr schaffen konnte. Und das machte ihr manchmal Sorge. Aber jetzt harte sie ja zumindest schon einen Anfang gemacht. Inge zog die neue Wäsche vorsichtig aus und legte sie sorgfältig zusammen. Dann schlüpfte sie in ihren Schlafanzug und den Bademantel. In einer halben Stunde gab es einen Spielfilm im Fernsehen, den wollte sie noch sehen.
Als sie das Fenster öffnete, fuhr gerade ein Auto auf den Parkplatz vor dem Haus. Inge sah auf die Uhr, es war schon kurz vor zehn, die neuen Gäste reisten ja wirklich spät an. Inge beugte sich vor und hielt die Luft an. Es war Heinz. Um diese Uhrzeit! Sie hatte überhaupt keine Lust, jetzt mit ihrem Bruder zu diskutieren. Sie wollte den Film sehen. In diesem Moment wurde die Beifahrertür geöffnet. Bitte nicht auch noch Charlotte! Dann wurde es noch komplizierter. Aber Charlotte war schlanker. Die Person, die ausstieg, war voluminös und bewegte sich schwerfällig. Vor Schreck blieb Inge der Mund offen stehen. Es war Walter. Mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken. Inge fragte sich, wie er damit gesessen hatte. Laufen konnte er jedenfalls kaum damit. Inge befürchtete, ohnmächtig zu werden.
Ohne Rücksicht auf bereits schlafende Gäste wurde jetzt auf den Klingelknopf gedrückt. Es war doch nicht zu fassen. Inge zog ihren Bademantelgürtel fester zusammen und hastete die Treppe hinunter, bevor Heinz oder Walter das ganze Haus weckten.
Sie riss die Haustür auf und starrte die beiden an.
»Überraschung!« Heinz lehnte sich lässig an den Türrahmen und lächelte. »Hast du etwa schon geschlafen?«
Mit seinem überdimensionalen, silberfarbenen Rucksack sah Walter ein bisschen aus wie Neil Armstrong beim Betreten des Mondes. Und so bewegte er sich auch. Er wankte zwei Schritte auf sie zu.
»Na, mein Inge, da guckst du, was? Ich habe mich sofort in den Zug gesetzt, als ich von dem Anschlag auf dich gehört habe. Das war ja wohl was. Ich sage dir, wir kriegen eine Revolution. Die Politik von denen da oben, die rächt sich irgendwann. Meine Rede: Zu viele Arme, zu viele Abgaben, alles wird teurer, da müssen doch einige ausflippen und ...«
»Walter.« Inges Stimme klang sehr schwach. Mittlerweile wünschte sie sich eine Ohnmacht geradezu herbei.
»Ja?«
»Was hast du denn da für ein Ding auf dem Rücken ?«
»Das?« Walter versuchte seinen Kopf ein Stück zu drehen. »Das ist ein Rucksack. Damit kann man eine Weltreise machen. Zwanzig Innentaschen. Frostsicher. Ultraleichter Kunststoff. Ganz prima.«
»Aha. Zwanzig Innentaschen«, wiederholte Inge tonlos.
»Und wiegt fast nichts.« Heinz schlug begeistert auf das Monstrum, so dass Walter ein Stück vortaumelte. »Hat er geliehen. Von ... wie heißt der noch?«
»Von Henning.
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