Tante Inge haut ab
Das ist der Sohn von meinem ehemaligen Kollegen Paul. Der macht öfter mal eine Weltreise und hat es auch so im Rücken. Da soll man ja keine Koffer tragen. Von wegen der ungleichen Belastung, das verschiebt die Wirbel. Deshalb hat er mir den Rucksack geliehen. Das fand ich sehr nett. Und er braucht ihn erst im Oktober zurück.«
»Im Oktober.« Inge fühlte sich wie ein traumatisierter Papagei. »Sag bloß.«
»Ja.« Walter nickte zufrieden. »Man kriegt ihn nur so schlecht allein runter.«
»Das machen wir gleich zusammen.« Heinz schob sich an Inge vorbei in den Flur. »Jetzt komm doch erst mal rein. Kleines Pils?«
Walter nickte. »Gerne. Das wird auch Zeit. Ich hatte mein Wasser schon in Münster ausgetrunken.«
»Inge, wo hast du denn Bier? In der Gaststube? Oder sollen wir bei Petra klopfen?«
Plötzlich erwachte Inge aus ihrer Starre. »Untersteh dich! Wir klopfen nicht bei Petra, und wir gehen auch unter gar keinen Umständen in die Gaststube. Es ist nach zehn Uhr abends. Was ist eigentlich in euch gefahren? Walter, wieso rufst du nicht an, bevor du dich mit so albernem Gepäck in den Zug setzt? Ich habe doch klar und deutlich gesagt, dass ich ein paar Tage Ruhe brauche. Spreche ich Bulgarisch, oder wieso hört mir keiner zu?«
»Nun reg dich doch nicht auf.« Ihr Bruder tätschelte ihr den Arm. »Wir schlafen da mal drüber, und morgen sehen wir weiter.« Er zwinkerte seinem Schwager zu und begann umständlich, ihm das Trumm von Rucksack abzunehmen.
Ihr könnt gern drüber schlafen, nur hier nicht.« Inges Stimme zitterte, sie wusste selbst nicht, ob vor Wut oder Kälte. >*Ich habe ein Einzelbett. Walter, es tut mir leid, du hattest bestimmt eine anstrengende Fahrt, aber ich habe es dir gesagt: Ich will meine Ruhe. Und jetzt will ich meinen Film sehen. Also tschüss.«
Mit hängenden Armen und verblüfften Gesichtern standen Walter und Heinz vor ihr. Walter fand als Erster seine Sprache wieder. »Ja, wenn du meinst...«
»Aber wo soll er denn hin?« Heinz hob theatralisch seine Hände. »Er kann ja wohl nicht in den Dünen schlafen!«
Inge musterte nachdenklich den Weltenbummler-Rucksack. »Wohl nicht. Aber bei euch ist doch Platz. Heute Nachmittag erst hast du zu mir gesagt, ich soll zu euch ziehen. Für eine Nacht kann Walter ja wohl auf der Couch schlafen. Und morgen fährst du wieder nach Hause, Walter. Mir geht es gut, das hast du jetzt gesehen, du kannst beruhigt zurück.«
Sie ignorierte die entsetzte Miene ihres Bruders und sah stattdessen Walter an. Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf.
»Das geht nicht. Da muss ein Sonntag dazwischen sein. Das ist schlecht.«
»Wie? Sonntag?« Inge verstand kein Wort.
»Sparpreis.« Walter tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. »Ich habe die Bahn ausgetrickst. Die normalen Fahrpreise sind ja eine Unverschämtheit. Jetzt habe ich was ausgetüftelt, das ist sensationell preiswert. Aber wenn ich morgen zurückfahre, ist mein ganzes System hinfällig.«
Bevor Inge antworten konnte, stellte sich Heinz wie ein Schutzschild vor seinen Schwager. »Inge, ich erkenne dich nicht wieder. Und ich schäme mich für dich. Walter, du kommst jetzt mit zu uns, es ist ja nicht so, dass die ganze Familie
durchgedreht ist, einige von uns haben noch Anstand. Also, dann. Wiedersehen. Walter, du kriegst das Ding alleine hoch, oder?«
Ohne die Antwort abzuwarten, stürmte Heinz an seiner Schwester vorbei nach draußen. Walter bückte sich seufzend und schob mühsam seinen Arm in einen der Tragegurte. Inge fühlte plötzlich Mitleid, beugte sich vor und hielt den Gurt hoch. Walter lächelte sie dankbar an.
»Das ist ein bisschen unpraktisch, allein, weißt du, der Henning ist viel größer als ich, der kommt da irgendwie besser rein. Danke.« Er zog die Gurte zurecht und wippte ein paar Mal, bis alles richtig saß. »So. Dann gehe ich wohl mit deinem Bruder mit, was?«
Inge strich ihm kurz über die Wange. »Ja, Walter. Ich habe es dir extra gesagt, ich muss ein bisschen allein sein.«
»Sag mal, Inge...?«
»Was?«
»Aber du bist nicht sauer auf mich, oder?«
»Nein. Du hättest nur anrufen sollen.«
»Aber die Fahrkarte war wirklich günstig ... Wie lange dauert das denn noch? Also, das mit dir, meine ich.«
»Ach Walter.« Er hatte mit diesem riesigen Rucksack eine frappierende Ähnlichkeit mit einer Comicfigur, die Pia als Kind gehabt hatte, Big Jim oder so ähnlich. »Du und ich, wir müssen aber was aus unserem Leben machen. Mal was
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