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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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fragte ich mich, wieviele Jahre sie wohl älter sei als ich.
     

 
    IV
     
    In der feuchten Nacht in Callao, die so dunkel war wie ein Wolfsrachen, stellte Wachtmeister Lituma den Kragen seines Regenmantels hoch, rieb sich die Hände und machte sich daran, seine Pflicht zu tun. Er war ein Mann in der Blüte seiner Jahre – er war fünfzig –, den die gesamte Guardia Civil hochschätzte. Ohne zu klagen hatte er auf den übelsten Polizeiposten Dienst getan, und sein Körper wies einige Narben aus den Schlachten gegen das Verbrechertum auf. Die Gefängnisse von Peru quollen über von Übeltätern, die er dingfest gemacht hatte. In Tagesberichten war er als Vorbild erwähnt, in offiziellen Reden gelobt und zweimal ausgezeichnet worden. Aber dieser Ruhm hatte seiner Bescheidenheit nichts anhaben können, die so groß war wie sein Mut und seine Ehrenhaftigkeit. Seit einem Jahr tat er Dienst im Vierten Revier von Callao, und seit drei Monaten hatte er die härteste Aufgabe, die das Schicksal einem Wachtmeister im Hafen auferlegen kann, die Nachtstreife. Die fernen Glocken der Kirche von Nuestra Senora del Carmen de la Légua schlugen Mitternacht, und Wachtmeister Lituma –breite Stirn, Adlernase, durchdringender Blick, von Güte und aufrechter Gesinnung – begann pünktlich wie immer seinen Rundgang. Das alte Holzhaus des Vierten Reviers – ein flackerndes Licht in der Dunkelheit – blieb hinter ihm zurück. Er stellte sich vor, wie Hauptmann Jaime Concha jetzt seinen Donald Duck las, wie die beiden Polizisten Mocos Camacho und Manzanita Arévalo sich Zucker in den frisch aufgegossenen Kaffee rührten, und der einzige Festgenommene dieses Tages, ein im Omnibus Cucuito-La Parada in flagranti erwischter Taschendieb, der mit zahlreichen Prellungen, die er einem halben Dutzend Fahrgästen zu verdanken hatte, auf die Wache gebracht worden war, würde jetzt zusammengerollt auf dem Boden der Gefängniszelle schlafen.
    Wachtmeister Lituma begann seinen Rundgang durch das Viertel Puerto Nuevo, wo Chato Soldevilla Dienst tat, ein Tumbe-siner, der mit feuriger Stimme Tonderos sang. Puerto Nuevo war der Schrecken der Wachtmeister und Kriminalbeamten von Callao, denn in seinem Labyrinth aus Bretter-, Wellblech- und Lehmhütten verdiente sich nur ein winziger Teil der Bewohner sein Brot als Hafenarbeiter oder Fischer. Der größte Teil bestand aus Herumtreibern, Dieben, Saufbolden, Messerstechern, Zuhältern und Strichjungen (die unzähligen Prostituierten nicht gerechnet), die bei dem geringsten Anlaß mit Messern, hin und wieder auch mit Schußwaffen auf einander losgingen. Diese Gegend ohne fließendes Wasser oder Kanalisation, ohne Strom und ohne Straßenpflaster hatte sich nicht selten mit dem Blut von Ordnungshütern gefärbt. Aber in dieser Nacht war es außergewöhnlich friedlich. Während Lituma über unsichtbare Steine stolperte, das Gesicht verkniffen wegen des Gestanks von Exkrementen und Verfaultem, der ihm in die Nase stieg, lief er auf der Suche nach Chato durch die Mäander des Viertels und dachte: Die Kälte hat die Nachtschwärmer früh ins Bett geschickt. Es war Mitte August, also mitten im Winter, ein dichter Nebel, der alles verwischte und auflöste, und ein hartnäckiger Nieselregen, der die Luft feucht machte, verliehen dieser Nacht etwas Trauriges und Unwirtliches. Wo steckte Chato Solde-villa? Von der Kälte oder den Gangstern verschreckt, war dieser Weichling aus Tumbes bestimmt in eine der Bars an der Avenida Huascar gegangen, um sich aufzuwärmen und einen Schluck zu trinken. Nein, nein, das würde er nicht wagen, dachte Wachtmeister Lituma. Er weiß, daß ich die Runde mache und ihn zusammenscheiße, wenn er seinen Posten verlassen hat.
    Er fand Chato unter einer Laterne an der Ecke gegenüber dem Staatlichen Kühlhaus. Er rieb sich zornig die Hände, sein Gesicht war hinter einem gespenstischen Halstuch verschwunden, das nur seine Augen freiließ. Als er Lituma sah, fuhr er zusammen, und seine Hand rutschte ans Halfter, dann, als er ihn erkannte, schlug er die Hacken zusammen. »Sie haben mich erschreckt, Herr Wachtmeis ter«, sagte er lachend. »So von weitem, wie Sie aus der Dunkelheit kamen, sahen Sie aus wie ein Geist.«
    »Ein Geist, ach, Unfug.« Lituma gab ihm die Hand. »Du hast gedacht, ich war ein Gauner.«
    »Bei dieser Kälte läuft kein Gauner freiwillig herum, was denken Sie.« Chato rieb sich wieder die Hände. »Die einzigen Verrückten, die in so einer Nacht herumlaufen, sind Sie und

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