Tante Julia und der Kunstschreiber
weiße Schuhe, war geschminkt und vom Friseur zurechtgemacht; sie lachte laut und direkt und hatte eine rauhe Stimme und herrische Augen. Ich entdeckte ein wenig spät, daß sie eine attraktive Frau war. In einem Anflug von Enthusiasmus sagte Onkel Lucho, man werde nur einmal im Leben fünfzig und wir sollten ins Grill Bolivar gehen. Ich dachte, dies sei nun schon der zweite Tag, an dem ich nicht an meiner Erzählung über den eunuchischen und pervertierten Senator schreiben konnte (sollte ich ihr diesen Titel geben?). Aber ich bedauerte es nicht, ich war sehr froh, daß ich in diese Feier mit aufgenommen wurde. Tante Olga meinte, nachdem sie mich begutachtet hatte, mein Aufzug entspreche nicht dem Grill Bolivar, und brachte Onkel Lucho dazu, mir ein sauberes Hemd und eine auffällige Krawatte zu leihen, die das Alter und den ungepflegten Zustand meines Anzugs ein wenig kompensieren sollten. Das Hemd war mir zu groß, und ich fühlte mich unbehaglich, weil mein Hals darin zu dünn aussah (Tante Julia nahm das sofort zum Anlaß, mich Popeye zu nennen).
Ich war noch nie im Grill Bolivar gewesen und hielt es für den raffiniertesten und elegantesten Platz der Welt, und das Essen war das Exquisiteste, was ich jemals gegessen hatte. Eine Kapelle spielte Boleros, Pasodobles und Blues. Der Star der Show war eine Französin wie Milch und Honig, die schmeichelnd ihre Lieder sang und dabei so aussah, als masturbiere sie das Mikrophon mit den Händen. Onkel Lucho, dessen gute Laune mit dem Alkoholgenuß zunahm, applaudierte ihr mit einem Kauderwelsch, das er Französisch nannte: »Vravo! Vravo! Mamua-sell Cherï!« Zu meiner Überraschung war ich der erste, der zu tanzen begann, und zog Tante Olga auf die Tanzfläche – ich konnte gar nicht tanzen. Damals war ich fest davon überzeugt, daß die Berufung zur Literatur mit Tanz und Sport unvereinbar sei. Glücklicherweise waren sehr viele Menschen auf der Tanzfläche, und in dem Gedränge und in der Dunkelheit merkte es niemand. Tante Julia dagegen machte es Onkel Lucho sehr schwer, sie zwang ihn, offen zu tanzen und Figuren zu drehen. Sie tanzte gut, und die Blicke vieler Herren folgten ihr. Beim nächsten Tanz forderte ich Tante Julia auf und warnte sie, ich könne nicht tanzen. Aber man spielte einen langsamen Blues, und ich entledigte mich meiner Aufgabe mit Anstand. Wir tanzten einige Stücke zusammen und entfernten uns unmerklich von dem Tisch, an dem Onkel Lucho und Tante Olga saßen. Als die Musik zu Ende war, wollte Tante Julia sich mit einer Bewegung von mir losmachen, aber ich hielt sie zurück und küßte sie auf die Wange, dicht neben ihren Mund. Sie sah mich erstaunt an, als wäre ein Wunder geschehen. Die Kapelle wurde ausgewechselt, und wir mußten an den Tisch zurück. Dort fing Tante Julia an, Witze über Onkel Lucho zu machen, über das Alter von fünfzig Jahren, in dem die Männer anfingen, Lustgreise zu werden. Hin und wieder warf sie mir einen raschen Blick zu, als wollte sie feststellen, ob ich auch wirklich da sei, und in ihrem Blick konnte man sehr deutlich erkennen, daß es ihr noch nicht in den Kopf wollte, daß ich sie geküßt hatte, Tante Olga war müde und wollte gehen, aber ich drängte darauf, noch einmal zu tanzen. »Unser Intellektueller wird verdorben«, stellte Onkel Lucho fest und zog Tante Olga zum Tanzen fort. Ich forderte Tante Julia auf, und während wir tanzten, blieb sie (zum ersten Mal) stumm. Als ich sie in der Menge der Paare, Onkel Lucho und Tante Olga waren weit entfernt, ein bißchen an mich drückte und meine Wange an ihre legte, hörte ich sie verwirrt murmeln: »Hör mal, Marito…« Aber ich unterbrach sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich verbiete dir, mich noch einmal Marito zu nennen.« Sie zog ihr Gesicht ein bißchen weg, um mich anzusehen, und versuchte zu lächeln, und da, in einer beinahe mechanischen Bewegung, beugte ich mich vor und küßte sie auf die Lippen. Es war eine sehr flüchtige Berührung, aber sie hatte es nicht erwartet und blieb vor Überraschung einen Augenblick stehen. Jetzt war ihre Verwirrung vollkommen. Sie riß Mund und Augen auf. Als der Tanz zu Ende war, zahlte Onkel Lucho, und wir gingen. Auf dem Weg nach Miraflores – wir beide saßen auf dem Rücksitz –nahm ich Tante Julias Hand, drückte sie sanft und behielt sie in meinen Händen. Sie zog sie nicht zurück, aber ich bemerkte, daß sie immer noch überrascht war, und sie sagte kein Wort. Als ich vor dem Haus meiner Großeltern ausstieg,
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