Tante Lisbeth (German Edition)
schweren Masse auf das Sofa warf. Das Geräusch war so eigentümlich, daß sie einen Schlaganfall befürchtete. In atemloser Angst sah sie durch die Tür und in den Spiegel und erblickte ihren Hektor in der Haltung eines vernichteten Menschen. Sie kam auf den Fußspitzen heran. Hektor hörte nicht. Sie trat noch näher, bemerkte den Brief, nahm ihn, las ihn und zitterte an allen Gliedern. Sie erlitt einen jener Nervenschocks, die so heftig sind, daß der Körper zeitlebens die Spur davon trägt. Noch nach Tagen hatte sie krampfartige Anfälle; aber nachdem der erste Augenblick vorüber war, verlieh ihr die Notwendigkeit zu handeln eine Stärke, wie man sie nur aus den Quellen der Lebenskraft selbst schöpft.
»Hektor, komm mit in mein Zimmer!« sagte sie mit einer Stimme, die nur noch ein Hauch war. »Deine Tochter darf dich nicht so sehen. Komm, Bester, komm!«
»Wo soll ich zweihunderttausend Francs hernehmen?« klagte Hulot. »Ich könnte es ja durchsetzen, daß man Claude Vignon als Kommissar hinschickte. Das ist ein kluger und vernünftiger Kerl! In zwei Tagen kriege ich das fertig. Aber zweihunderttausend Francs! Mein Sohn hat sie nicht; sein Grundstück ist mit dreihunderttausend Francs Hypotheken belastet. Mein Bruder hat allerhöchstens dreißigtausend Francs Ersparnisse. Nucingen würde mich auslachen! Und Vauvinet? Der hat mir mit Mühe und Not zehntausend herausgerückt, damit die Summe für den Jungen des verfluchten Marneffe voll wurde. Das nützt also alles nichts! Ich muß mich der Gnade des Marschalls ausliefern, ihm die ganze Geschichte beichten, mich eine Canaille schimpfen lassen und notdürftig meinen anständigen Abschied herausschinden!«
»Hektor, es handelt sich nicht mehr allein um unsern Ruin, sondern um die Ehre!« sagte Adeline. »Mein armer Onkel wird sich erschießen ... Richte uns zugrunde! Das darfst du. Nur werde nicht zum Mörder! Also Mut! Es muß sich Hilfe finden lassen!«
»Es findet sich keine«, entgegnete der Baron. »Es ist heutzutage unmöglich geworden, zweihunderttausend Francs aufzutreiben. Ja, unter Napoleon...«
»Mein armer Onkel! Hektor, wir dürfen ihn nicht ehrlos in den Tod gehen lassen!«
»Es gäbe wohl einen Ausweg«, meinte Hulot. »Er ist allerdings sehr gewagt: Crevel! Er steht zwar mit seiner Tochter wie Hund und Katze; aber er ist schwerreich. Er allein könnte ...«
»Siehst du, Hektor, es ist besser, deine Frau geht zugrunde, als daß unser Onkel, dein Bruder und die Ehre der Familie verderben«, sagte die Baronin, von einer Erleuchtung getroffen. »Ja, ich kann euch alle retten!« Aber bei sich setzte sie hinzu: Mein Gott! Welch häßlicher Gedanke! Wie konnte ich darauf verfallen!
Sie betete bei sich zu Gott, als sie einen Freudenstrahl über das Gesicht ihres Mannes huschen sah. Von neuem kam ihr der nämliche höllische Gedanke. Sie ward sterbenstraurig.
»Geh!« sagte sie laut. »Lauf ins Ministerium, sieh zu, daß ein Kommissar nach Algier gesandt wird! Es muß sein! Beschwöre den Fürsten! Ich hoffe, wenn du zurückkehrst, findest du ... findest du die zweihunderttausend Francs! Dann wäre deine Familie, deine Ehre als Mensch und Beamter, dein Sohn, alles gerettet. Nur deine Adeline ist verloren, und du siehst sie nie wieder! Mein geliebter Hektor, segne mich!« Sie kniete vor ihm nieder, drückte ihm die Hände und küßte sie. »Sage mir Lebewohl!«
Der Baron umfaßte seine Frau, zog sie zu sich empor und küßte sie.
»Ich verstehe dich nicht!« sagte er.
»Es ist gut so. Verständest du mich, dann stürbe ich vor Scham oder ich hätte nicht die Kraft mehr, dieses letzte Opfer zu bringen!«
Mariette kam.
»Gnädige Frau, es ist angerichtet.«
Hortense erschien und begrüßte Vater und Mutter.
»Frühstückt einstweilen ohne mich! Ich werde gleich kommen« entschuldigte sich die Baronin.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb folgenden Brief:
»Lieber Crevel!
Ich möchte Sie um einen Dienst bitten. Ich erwarte Sie unverzüglich und rechne auf Ihre mir bekannte Galanterie. Lassen Sie mich nicht zu lange warten!
Ihre sehr ergebene
Adeline Hulot.«
»Luise«, befahl sie der Kammerjungfer ihrer Tochter, die bei Tisch bediente, »tragen Sie den Brief zum Hausmeister hinunter und sagen Sie ihm, er solle ihn sofort besorgen und auf Antwort warten.«
Der Baron, der Zeitungen zur Hand genommen hatte, reichte seiner Frau ein republikanisches Blatt, wobei er auf einen bestimmten Artikel aufmerksam machte.
»Wird es
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