Tante Lisbeth (German Edition)
nicht schon zu spät sein?«
Der Artikel lautete:
»Einer unserer Berichterstatter schreibt uns aus Algier, beim Proviantamt der Provinz Oran hätten sich derartige Unregelmäßigkeiten herausgestellt, daß eine gerichtliche Untersuchung erforderlich geworden sei. Die Unterschleife lägen zutage. Die Schuldigen kenne man. Wenn hier nicht mit eiserner Hand eingegriffen werde, wären durch derartige Mißstände größere Verluste an Mannschaften zu befürchten als durch die Waffen der Araber und das heiße Klima.
Wir erwarten weitere Nachrichten, ehe wir auf dieses bedauernswerte Vorkommnis näher eingehen. Es ist uns jetzt nicht mehr unverständlich, warum man sich gegen die Gründung einer Zeitung in Algier sträubt, obgleich es die Verfassung von 1830 zuläßt.«
»Ich ziehe mich an und werde ins Ministerium gehen«, sagte der Baron, indem er vom Tisch aufstand. »Die Zeit ist kostbar. Es steht ein Menschenleben auf dem Spiel.«
»Ach, Mutter«, klagte Hortense, »ich habe keine Hoffnung mehr.«
Sie hatte in der »Revue des Beaux-Arts« gelesen und reichte die Nummer ihrer Mutter. Die Tränen übermannten sie dabei. Frau von Hulots Blick fiel auf eine Abbildung der Delilagruppe des Grafen Steinbock. Darunter stand: »Im Besitze von Frau Valerie Marneffe.« Der mit »V.« gezeichnete Text dazu verriet bereits in den ersten Zeilen den selbstgefälligen Stil von Claude Vignon.
»Armes Kind!« sagte die Baronin.
Hortense fiel der fast gleichgültige Ton dieser Worte auf. Sie blickte ihrer Mutter ins Gesicht und sah ihren tiefen Schmerz, der eine andere Ursache haben mußte als ihr eigenes Leid.
»Was hast du, Mutter? Was ist dir zugestoßen? Können wir denn noch unglücklicher werden, als wir es schon sind?«
»Mein liebes Kind, es kommt mir vor, daß im Vergleich zu dem, was ich heute leide, meine früheren furchtbaren Leiden nichts waren. Wann werde ich nicht mehr zu dulden haben?«
»In jener andern Welt, liebe Mutter!« sagte Hortense ernst.
»Komm, mein Engel, sei mir beim Ankleiden behilflich! Oder nein ... ich will nicht, daß du mir dabei hilfst. Schick mir Luise!«
Adeline ging in ihr Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel, traurig und prüfend.
Bin ich noch schön? fragte sie sich. Noch begehrenswert? Sehe ich nicht schon alt aus?
Sie strich sich das blonde Haar von den Schläfen, entblößte die Schultern. Nirgends Altersspuren. Befriedigung, eine Regung von Stolz erfüllte sie. Sorgfältig wählte sie die einzelnen Stücke ihrer Toilette aus, aber die fromme und reine Frau blieb trotz gewisser kleiner Koketterien doch keusch in ihrer Kleidung. Wozu zog sie neue grauseidene Strümpfe und Atlashalbschuhe an, wo sie doch die Kunst so ganz und gar nicht verstand, im entscheidenden Augenblick den hübschen Fuß vorzustrecken, um unter dem heraufgezogenen Rock eine Spanne der Wade zu zeigen und der Begehrlichkeit das Feld zu erweitern? Sie zog ein hübsches Musselinkleid mit aufgedruckten Blumen an, tief ausgeschnitten und mit ganz kurzen Ärmeln; aber, erschrocken über ihre Nacktheit, versteckte sie die vollen Arme unter weißen Gazeärmeln und verschleierte Brust und Schultern mit einem gestickten Schal. Ihre englische Frisur kam ihr zu herausfordernd vor; sie milderte das Verführerische daran durch ein recht nettes Häubchen. Gleichgültig, ob mit oder ohne Häubchen – sie hätte doch nicht mit ihren feinen Händen spielend oder ordnend nach dem goldenen Haar gegriffen, um Hände und Haar bewundern zu lassen!
Mit einem Male dachte sie an ihr Vorhaben: daß sie sich zu einem reiflich erwogenen Fehltritt vorbereitete ... Etwas wie wildes Fieber überkam sie, das ihr den ganzen Schimmer der Jugend wiedergab. Sie brauchte keine Schminke. Ihre Haut leuchtete, und ihre Augen strahlten. Sie lächelte vor dem Spiegel und fand sich zu ihrem Entsetzen schamlos aussehend.
Tante Lisbeth hatte ihr auf ihre Bitten hin die näheren Umstände von Steinbocks Treubruch erzählt. Dadurch wußte sie, daß sich Frau Marneffe im Laufe eines einzigen Abends, einer einzigen Stunde zur Geliebten des bezauberten Künstlers gemacht hatte. Sie begriff das nicht.
»Wie machen die das nur?« hatte sie Lisbeth gefragt.
Keine Neugier ist größer als die der tugendhaften Frauen in dieser Hinsicht. Sie möchten über alle Verführungskünste der Welt verfügen, und sie bleiben doch rein.
»Mein Gott, sie verführen eben. Das ist ihr Element. Weißt du, meine liebe Adeline, die Valerie würde einen Engel zum
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