Tanz auf Glas
Baby hinterlassen konnte, wozu hatte ich all das dann durchgemacht? Was er so energisch von sich schob, war alles, was ich ihm noch zu geben hatte.
Während ich im Dunkeln lag und Mickeys leise Atemzüge über meine Wange strichen, fragte ich mich wieder einmal, wie ich so enden konnte: Rettungslos verliebt in einen kaputten Mann, schwanger mit seinem Kind im Sterben liegend, und nun musste ich mich auch noch damit abfinden, dass er sie womöglich fortgeben und jemand anderes sie abends in den Schlaf wiegen würde.
Das war nicht die Lösung. Das durfte nicht sein.
Ich hatte mir Mickey Chandler nicht als meinen Ehemann auserkoren, damit es so endete. Ich hatte mich für ihn entschieden, weil er ein Kämpfer war. Jeden Tag kämpfte er darum, sein Bestes zu geben, trotz seiner Krankheit. Das gelang ihm nicht immer – und wenn er es nicht schaffte, konnten die Konsequenzen verheerend sein. Aber um diesen Menschen, das Beste in ihm, kämpfte er Tag für Tag. Und deswegen hatten die guten Tage die schlechten bei weitem überwogen. Ja, manchmal wurde er unter seiner Krankheit begraben. Aber dieser Mann in Mickeys Innerstem, sein Kern, war ein guter Mann, ein bewundernswerter Mann, der ein wunderbarer Vater sein könnte.
Er vermochte seine Tochter so viel zu lehren. Und auch meine Familie hatte ihr so viel zu geben. Durfte das Schicksal so grausam sein und Lily nicht erlauben, ihr eine vernarrte Tante zu sein? Durfte Ron sie nicht stille Güte und Großherzigkeit lehren? Sollte Priscilla ihr nicht Fleiß und Sorgfalt vorleben dürfen? Nein. Sie alle hatten eine wichtige Rolle zu spielen. Ich musste sie nur anders besetzen.
Ich brauchte eine ganze Weile, um das gründlich durchzudenken, und das Ergebnis entsprach nicht meinem Ideal, aber ich war sicher, dass es funktionieren würde. Es war die einzig mögliche Lösung, und wenn es schon nicht nach meinen ersten Wünschen laufen konnte, dann war das wirklich kein übler Plan B.
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27
9 . November 2011
H eute habe ich meinen Vater angerufen. Ich hatte ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesprochen, und gesehen haben wir uns zuletzt an Weihnachten vor zwei Jahren. Ich weiß selbst nicht recht, warum ich ihn anrief, knappe E-Mails fand ich viel angenehmer. Aber er hörte sofort an meiner Stimme, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Was ist passiert, mein Junge?«
»Sie stirbt, Dad«, stieß ich hervor.
»Lass mich nur schnell den Fernseher ausschalten. Und dann fang ganz am Anfang an.«
Und das tat ich. Das meiste wusste er schon, weil Lucy so lieb war, ihm auch oft E-Mails zu schreiben. Aber ich hatte nicht gewusst, dass sie ihm die Ultraschallbilder geschickt hatte. Ich würde ihm ein andermal sagen, dass ich das Baby nicht behalten konnte, aber in diesem Moment brachte ich es einfach nicht fertig – er freute sich so sehr auf sein Enkelkind. Eigentlich hatte ich ihn auch angerufen, um ihn etwas zu fragen, nämlich wie er es überlebt hatte, meine Mutter zu verlieren.
Er zögerte keinen Augenblick lang. »Man lebt als Krüppel weiter. Verstümmelt. Verändert. Aber man lebt weiter.«
Diese Antwort überraschte mich. Als Kind war er mir stets ein wenig gleichgültig erschienen.
»Du wirst für den Rest deines Lebens jeden Tag an sie denken. Es wird nicht immer weh tun, aber meistens. Ich weiß nicht genau, was du hören möchtest, Mic. Aber wenn man eine Frau so sehr liebt, dass man sie braucht wie die Luft zum Atmen – so, wie du Lucy liebst, wie ich deine Mutter geliebt habe –, dann kann es das ganze Leben dauern, sich wieder neu zu sortieren.« Er schwieg kurz, aber der Stein in meiner Kehle war zu dick, als dass ich hätte sprechen können.
Er schluckte. »Dir war vielleicht nicht bewusst, dass ich deine Mom so sehr geliebt habe, und das wundert mich nicht. Ich konnte nicht besonders gut mit der Liebe umgehen. Aber sie war immer da, Mic. Ganz dicht unter dem Whisky und dem gebrochenen Herzen. Ich bin kein starker Mann. Ich habe lange gebraucht, damit zurechtzukommen, dass ich eine Frau liebte, die lieber tot sein wollte, als mit mir zu leben. Aber du hast mich nicht angerufen, damit ich all den alten Kummer wieder ausgrabe. Du wirst das besser machen als ich, mein Junge, weil du bessere und schönere Erinnerungen wachrufen kannst. Es wird entsetzlich weh tun, da will ich dir gar nichts vormachen. Aber Lucy ist einzigartig, und sie hat dir eine Menge gegeben, woran du dich festhalten kannst. Und natürlich wird deine kleine Tochter dir helfen, es zu
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