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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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das aus Trotz ein Geschenk ablehnt. Sie verschränkte die Hände vor sich.
    »Ich bin Dr. Sweeny. Wir haben uns letzte Woche kennengelernt.«
    Der Name kam mir bekannt vor, doch das Gesicht erkannte ich nicht.
    »Ich war gerade für eine Weile bei Ihrer Tochter. Möchten Sie wirklich nicht hereinkommen und sich ein bisschen zu ihr setzen?«
    »Ich glaube nicht«, murmelte ich.
    »Na, dann vielleicht später. Haben Sie irgendwelche Fragen?«
    »Wie geht es ihr?«
    »Sie hat immer noch Mühe mit dem Atmen, und wir überwachen sie sehr genau. Das ist das große Problem bei Frühchen. Sie sind faul, aber es geht ihr schon wieder etwas besser als gestern. Soll ich die Jalousie hochziehen, damit Sie sie sehen können?«
    Ich starrte sie mit leerem Blick an, nickte aber in stummer Dankbarkeit.
    »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und verschwand durch die Tür zum Säuglingssaal. Einen Augenblick später wurde die Jalousie geöffnet, und hinter der Scheibe erschien ein heller Raum, in dem es geschäftig zuging. Dr. Sweeny ging zu einem Kinderbett und rückte einen winzigen Infusionsbeutel zurecht. Dann bewegte sie einen Monitor ein Stück zur Seite, damit ich mehr sehen konnte. Das winzige Baby lag in einem durchsichtigen Behälter, der aussah wie ein Sarg aus Acryl. Ich wich zurück und starrte auf meine Tochter. Soweit ich sehen konnte, hatte sie reichlich schwarze Haare, und an ihrer Brust klebten so viele Kabel, dass sie aussah wie eine weggeworfene Marionette. Sie war das winzigste menschliche Wesen, das ich je gesehen hatte. Beängstigend klein – gewiss zu klein, um zu überleben. Doch ihr Herzschlag wurde auf einem Bildschirm über ihrem Bettchen angezeigt. Er war kräftig und gleichmäßig, ganz im Gegensatz zu meinem.
    Ich hatte sie erst einmal gesehen, und das war kurz vor dem Tod ihrer Mutter gewesen, als ich hastig auf dem Weg zu Lucy gewesen war. Da hatte dieses kleine Geschöpf ausgesehen wie das winzige Produkt der beiden Menschen, die es hervorgebracht hatten. Jetzt schien sie viel mehr zu sein. Alles, was übrig war vom einzig Bedeutsamen auf der Welt. Ich weiß nicht, was mit mir geschah, während ich da stand, unerwartet dankbar und überwältigt. Sie war sechs Tage alt. Ihre Mutter war schon ihr Leben lang tot. Ich hatte Alpträume davon gehabt, wie ich dieses Baby verabscheute, und wochenlang gefürchtet, das seien meine wahren Gefühle. Ich hatte Lucy angebrüllt, weil sie darauf beharrt hatte, dass das Baby gerettet werden müsse, obwohl ich doch nur sie haben wollte. Ich hatte sie angefleht, es abtreiben zu lassen, und nun ließ ich beschämt den Kopf sinken und weinte.
    Ich war so in meiner Verzweiflung versunken, dass ich nicht sah, wie Dr. Sweeny aus dem Raum kam. Ich bemerkte sie erst, als sie mich sanft am Arm berührte.
    »Was kann ich für Sie tun, Mr Chandler?«, fragte sie mit unendlich gütiger Stimme.
    Einen Moment lang schluchzte ich nur, so heftig, dass es mich viel Kraft kostete. Doch als ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, fragte ich sie, ob ich hineingehen und meine Tochter kennenlernen dürfe.
    Dr. Sweeny zeigte mir, wo ich mich umziehen und mir die Hände waschen konnte. Dann rückte sie einen Stuhl dicht an den Brutkasten, in dem mein Baby lag. In purem Staunen schaute ich auf meine Tochter hinab. Wie konnte es einen so kleinen Körper geben, mit so winzigen Knochen und Fingernägeln und Wimpern? Sie sah zerbrechlich aus, als könne man ihr die Haut abreißen, wenn man sie streichelte. Als hätte Dr. Sweeny meine Gedanken gelesen, erklärte sie mir, dass ich mein Baby ruhig berühren durfte. Sie ermunterte mich sogar dazu.
    »Und wenn Sie schon mal da sind, halten Sie ihr ruhig eine kleine Standpauke. Sie soll sich mehr Mühe geben.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Haben Sie keine Angst vor ihr. Sie weiß, wer Sie sind.«
    Ich sah diese junge Frau an, diese unglaublich junge Ärztin, die so freundlich zu mir war. »Sie kennt mich?«
    »Ohne Zweifel. Erstaunlich, aber es stimmt tatsächlich. Obwohl so viele liebe Menschen bei ihnen sitzen, für sie beten, jeden kleinen Fortschritt bejubeln, erkennen sie unter all diesen Leuten ihre Eltern. Das ist wohl angeboren.« Dr. Sweeny lächelte und ließ mich mit meiner Tochter allein.
    Am Kopfende des Bettchens klebte eine rosafarbene Karte, auf der stand:
CHANDLER , Mädchen, geb. 19.11 ., 14 : 26  Uhr, ca. 34  Wochen. Gewicht 1640  Gramm.
Das Wort
Mädchen
war mit Rotstift durchgestrichen und

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