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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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und beobachtete sie. Sie war etwa in Lucys Alter, doch die Trauer hatte sie völlig ausgezehrt. Ihr Schmerz war so tief, dass er sogar ihre Muskeln verzerrte. Ihr gequälter Blick war mir unheimlich vertraut – den hatte ich schon im Spiegel gesehen. Am Ende dieser Sitzung ging ich zu ihr, und sie begrüßte mich wie den Seelenverwandten, der ich in gewisser Hinsicht war. Ich fand keine Worte für sie, und sie nicht für mich, doch sie breitete trotzdem die Arme aus, und ein paar Minuten lang weinten wir füreinander.
    Am nächsten Tag erzählte ich Gleason von ihrem Vergleich, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.
    »Es gibt nichts, worauf ich da unten landen könnte«, sagte ich. »Nur unendliche Traurigkeit. Ich höre in Gedanken Lucys Stimme, und ich stürze weiter ab. Ich erinnere mich an eine bestimmte Berührung, oder daran, wie sie mich einmal ausgelacht oder mir eine Grimasse geschnitten hat, und ich falle noch tiefer. Es stimmt wirklich. Diese Trauer ist bodenlos.«
    Gleason schüttelte den Kopf und sah mich mitfühlend an. »Mickey, mein Freund, das fühlt sich jetzt so an, weil du akut leidest. Aber das Leben wird weitergehen, und ehe du es recht bemerkt hast, wird sich ein Boden gebildet haben, auf dem deine Trauer schließlich landen kann. Es wird leichter, das verspreche ich dir. Und genau wie Lucy es geplant hatte, hast du jetzt eine Tochter, die dir über vieles hinweghelfen wird, bis es so weit ist.«
    »Ich habe keine Tochter, Gleason. Ron und Lily haben eine Tochter.«
    »Weil du nicht ihr Vater sein willst.«
    »Weil ich kein Recht habe, ihr Vater zu sein! Nicht, wenn sie bei gesunden, geistig stabilen, guten, liebevollen, wunderbaren Menschen aufwachsen kann. Sie haben sie adoptiert. Ende der Geschichte. Das hatte Lucy schließlich geplant.«
    Gleason lehnte sich zurück und tippte sich mit einem Bleistift ans Kinn. »Michael, du weißt, dass sich Lucy das nur als Plan B gewünscht hat. Du hast dir solche Mühe gegeben, sie von deiner Untauglichkeit zu überzeugen, dass ihr keine andere Wahl blieb. Aber das war nicht das, was sie wollte. Lucy hat ihr Leben für dieses Baby geopfert, um es in deine Hände zu geben. Sie hat dir eine Tochter hinterlassen, damit du einen Grund hast, aufzustehen und dir den Tag vorzunehmen. Genau das tun Kinder für uns.«
    »Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat, aber sie hat sich geirrt«, brummelte ich.
    »Wirklich, Michael?« Bei Gleasons verändertem Tonfall fragte ich mich, was mir entgangen sein könnte. »Wo hat sie sich denn sonst noch geirrt?«, setzte er nach.
    »Wie bitte?«
    Er starrte mich streng an. »Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, bei dem sich Lucy in einer so bedeutenden Sache geirrt hätte. War es etwa ein Irrtum von ihr, dich zu lieben? Hat sie sich geirrt, als sie dich geheiratet hat? Mich schaudert bei der Vorstellung, wer du heute wärest, wenn du dieses Mädchen nie kennengelernt hättest, mein Freund. Lucy hat sich dafür entschieden, dich zu lieben. Sie ist deine Frau geworden, weil sie schlicht keinen Grund sah, es nicht zu tun. Sie ist bei dir geblieben, weil sie sich keinen besseren Mann wünschen konnte. Das war das Leben, für das sie sich entschieden hat, und ich finde wirklich – wenn du gut genug warst für diese fantastische Frau, dann bist du auch gut genug für ihre Tochter.«
    »Aber ich bin ein Wrack!«, krächzte ich an dem Kloß in meiner Kehle vorbei. »Sieh mich doch nur an.«
    Gleason rückte seinen Stuhl dicht zu mir. »Ja, du hast deine Fehler, Mic. Aber die hat auch jeder andere Vater und jede Mutter auf dieser Welt. Du kennst deine psychische Störung haargenau. Du weißt, was nötig ist, damit du stabil bleibst. Du kennst sämtliche Anzeichen einer Episode und weißt, was du dann zu tun hast.«
    »Und?«
    Gleason seufzte. »Werde solider, Mickey. Es ist mir relativ gleichgültig, wo deine Tochter wohnt. Aber es ist mir wichtig, dass sie dich als ihren Vater kennt, und nicht als irgendeinen Besucher, der nur hin und wieder erscheinen kann, wenn sämtliche Sterne günstig stehen.«

[home]
    34
    I ch dachte darüber nach, was Gleason gesagt hatte, aber ich kaufte es ihm nicht ab. Dennoch war Abby meine Zuflucht. So schwer und hinderlich mein Schmerz auch sein mochte, sie war ein wirksames Schmerzmittel. Ich konnte zwar nicht bei ihr sein, ohne an ihre Mutter denken zu müssen. Aber meine kleine Tochter machte all das irgendwie erträglich, verschaffte mir für ein paar Minuten

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