Tanz auf Glas
nur irgendwie abgetrennt – als presste ich das Gesicht ans Fenster, um in ihr neues Leben, ihre neue Familie hineinzuschauen. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie Abby vergötterten, die sich unter ihrer unermüdlichen Aufmerksamkeit prächtig entwickelte. Lily war so lieb zu mir wie immer, Ron sogar noch herzlicher. Und weil sie so lieb und gütig waren, fiel es mir schwer, genau festzumachen, was los war. Aber irgendetwas geschah hier, dicht unter der Oberfläche all unserer guten Manieren.
Bei Lily empfand ich das besonders stark. Sie klammerte sich nicht gerade egoistisch an Abby, aber es war beinahe, als müsse ich ihr das Baby aus den Armen reißen, wenn ich es mal halten wollte. Dann blieb sie stets in der Nähe, als warte sie nur darauf, dass ich Abby fallen ließ. Aber das war vermutlich meine Schuld, weil Lily im Krankenhaus ja nie gesehen hatte, dass ich genau wusste, wie man einen Säugling sicher auf einem Arm trug. Ich konnte ein Baby auch einwickeln wie eine Mumie, um ihm ein Gefühl der Geborgenheit wie im Mutterleib zu geben. Aber Lily hatte mich nie dabei beobachtet, also musste sie davon ausgehen, dass ich keine Ahnung hatte, was zu tun war. Und um ehrlich zu sein, wirkte Lily aufrichtig schockiert und ein wenig verletzt, als Abby zum ersten Mal bei mir zu weinen aufhörte.
Am nächsten Abend, nachdem die Kleine schon den ganzen Nachmittag lang geweint und gequengelt hatte, war Lily mit ihrem Latein am Ende, wollte es aber nicht zugeben. Seit Stunden lief sie mit einer tiefen Falte zwischen den Augen herum, und als Ron versucht hatte, ihr zu helfen, hatte sie ihn angefahren. Also war ich ihr zunächst aus dem Weg gegangen. Doch als Abby immer verzweifelter weinte und Lily immer angespannter wurde, drängte es mich danach, meine Tochter auf den Arm zu nehmen. Kaum zu glauben, dass eine so winzige Lunge sämtliche Erwachsenen im Haus wahnsinnig machen kann, aber genau so ist es, und genau das geschah hier. Ohne weiter darüber nachzudenken, stand ich vom Küchentisch auf, zog das weinende Baby aus Lilys Armen und barg es an meiner Brust. Dann trug ich Abby nach oben ins Kinderzimmer und sang ihr leise etwas ins Ohr.
Wie so oft, wenn ich sie hielt, schrumpfte die Welt auf mich und meine Tochter zusammen. Vielleicht war es meine Stimme oder mein Herzschlag an ihrem Ohr, jedenfalls beruhigte sie sich beinahe augenblicklich, und ich drückte sie noch ein wenig fester an mich und küsste sie auf den Kopf. Dann setzte ich mich in den antiken Schaukelstuhl, den Ron auf Lilys Wunsch aus dem
Ghosts
herübergebracht hatte, und wiegte sie, bis sie einschlief. Im Dämmerlicht, umgeben von den rosigen Wänden des Kinderzimmers, sog ich sie förmlich in mich auf, diese Miniaturausgabe meiner Lucy.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, aber als ich aufblickte, standen Lily und Ron in der offenen Tür. Auf Lilys Gesicht lag ein Ausdruck, den ich nicht lesen konnte, und plötzlich war ich verlegen. Lily sagte nichts, sie versuchte nur durch den Schmerz in ihren Augen hindurchzulächeln. Als sie merkte, dass sie ihre Gefühle nicht verbergen konnte, gab sie auf und ging, und Ron bat für sie um Entschuldigung.
»Sie ist nur müde«, sagte er und betrat das Kinderzimmer.
»Ich weiß.«
»Mann, Mic, du hast es wirklich raus. Sie schläft tief und fest.«
»Tja, das wird aber nicht lange halten, wenn ich sie hinlege.«
Ron lachte leise.
Ein paar Sekunden lang starrte ich Abby an, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
»Lily kommt schon damit zurecht«, bemerkte Ron. Er klang unendlich müde.
Ich blickte zu ihm auf. »Wenn du das sagst. Aber es tut mir leid, Ron.«
»Was denn?«
»Alles. Ich muss endlich nach Hause gehen, damit hier Normalität einkehrt.«
»Du bleibst hier, bis du bereit bist. Ganz egal, wie lange das dauert.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ron, du weißt so gut wie ich, dass ich nie dafür bereit sein werde, allein in diesem Haus zu leben.« Ich blickte auf mein Kind hinab. »Also werde ich wohl dieses Wochenende gehen. Am Samstag.«
Ron stieß ein hustendes Lachen aus, als hätte ich einen Witz gemacht. Aber ich meinte es ernst.
»Das ist Heiligabend«, sagte er. »Das kannst du nicht machen.«
»Doch. Ich gebe gern zu, dass das sehr schwer sein wird, aber ich muss es tun.«
»Warum? Warum ausgerechnet an Heiligabend?«
»Weil Lucy Heiligabend so geliebt hat«, antwortete ich, und Erinnerungen stiegen in mir auf. »Ich glaube, da habe ich euch alle kennengelernt.
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