Tanz auf Glas
Erleichterung. Ich genoss die wenigen Male, an denen ich sie allein antraf. Es gefiel mir nicht, mich vor Lily zu verstecken, aber Abby zu teilen gefiel mir noch weniger. Also wartete ich meist, bis Lily nach Hause gegangen war. Doch dann blieb sie immer länger, bis spät in die Nacht, und ich konnte ihr nicht mehr aus dem Weg gehen.
Ich hatte meiner Schwägerin nichts von meinem Gespräch mit Gleason erzählt. Es hatte keinen Sinn. Nichts hatte sich geändert. Die Adoption stand, und ich zweifelte nicht daran, dass sie richtig war. Lily war mit überraschender Leichtigkeit in die Mutterrolle geschlüpft. Sie sorgte sich wie eine Mutter, säuselte wie eine Mutter, war ständig da wie eine Mutter. Das war schwer mitanzusehen. Ron wedelte mir mit seiner Liebe zu Abby nicht ganz so gnadenlos im Gesicht herum. Ich glaube, dass er mir etwas anmerkte – einen zusätzlichen Schmerz, den ich unter meiner Trauer und Depression nicht ganz hatte verbergen können. Manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich ansah, wenn ich Lily beobachtete, und ich fragte mich, ob ich so leicht zu durchschauen sei.
Es geschah eines Abends auf der Überwachungsstation – eine Art sekundäre Intensivstation für jene Babys, die nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr schweben, aber immer noch sehr sorgsam überwacht werden müssen. Als ich dort ankam, war Abby allein, doch ich hatte mich kaum hingesetzt, da erschienen Ron und Lily. Ich sah Lily an, dass es ihr genauso erging wie mir – sie wirkte ein wenig eifersüchtig und wäre lieber mit dem Baby allein gewesen. Doch sie lächelte und ließ sich nicht anmerken, dass meine Anwesenheit sie störte, begrüßte mich aber auch nicht mit der gewohnten Umarmung. Ich beobachtete sie, und ihre reine Liebe zu Abby war nicht zu übersehen. Die durfte ich ihr nicht missgönnen, das würde ich mir nicht erlauben. Ich stand auf.
»Wird Zeit für meine Medikamente. Ich gehe dann mal.«
»Wirklich? Du warst noch gar nicht lange hier.«
»Ich komme später noch mal wieder.« Ich beugte mich vor und küsste Abbys zarte Stirn. Ihre Augen waren offen, und ich schwöre, sie hat mich direkt angesehen, mitten hinein in das Wrack. Ich zögerte noch einen Moment lang, betrachtete ihr Gesicht – lange genug für Lily, um sich Sorgen zu machen.
»Alles in Ordnung, Mic?«
»Ja. Ich musste nur an etwas denken, das Dr. Sweeny erwähnt hat.«
»Was denn?«
»Sie hat gesagt, Abby wisse, wer ich bin – dass ich ihr Vater bin –, und das hat mich gefreut.« Ich wandte mich um und sah den Ausdruck gequälter Überraschung auf Lilys Gesicht. Und weil ich ein Idiot bin und keine Ahnung hatte, wie ich diese Situation retten sollte, starrte ich eine weitere Sekunde lang ihre betroffene Miene an und zuckte dann mit den Schultern. »Wir sehen uns.«
»Bis dann«, sagte Ron ohne einen Hinweis darauf, ob er Lilys Reaktion mitbekommen hatte. Lily setzte ein falsches Lächeln auf, das nicht hielt, als sie auf Abby hinabschaute, die wieder eingeschlafen war.
»He, Mic!«, rief Ron, als ich mich zum Gehen wandte. »Wir haben uns etwas überlegt und würden dir gern einen Vorschlag machen.«
Ich wartete ab.
»Wir finden, du solltest zu uns nach Hause kommen, wenn du entlassen wirst. Das wäre doch nur sinnvoll, oder? So lange, bis du bereit bist, nach Hause zu gehen.«
»Im Ernst?«
»Unbedingt«, beharrte Ron. »Weihnachten steht vor der Tür. Lass uns das erst einmal hinter uns bringen, und wenn du dann so weit bist, wieder in eurem Haus zu wohnen, helfen wir dir, dich einzuleben.«
Ich ging zu ihm, um ihm die Hand zu reichen, doch statt sie zu schütteln, umarmte er mich. Seine Großzügigkeit beschämte mich beinahe, und Lily nickte zustimmend, mit Tränen in den Augen.
»Wirklich, Lil?«
»Aber ja. Wir sind deine Familie. Wir wollen dich bei uns haben.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich werde es mir auf jeden Fall überlegen«, erklärte ich, obwohl das für mich keine Frage war. Natürlich würde ich zu ihnen ziehen. Dort würde schließlich auch meine Tochter sein.
Abby blieb drei Wochen im Krankenhaus. Ich neunundzwanzig Tage. Bei weitem kein neuer Rekord, aber doch ziemlich lange. Wie geplant zog ich dann bei Ron und Lily ein. Doch was mir erst als gute Idee erschienen war, entpuppte sich als Fehler. Binnen weniger Tage fühlte ich mich wie ein Eindringling. Sie taten wirklich nichts, was mir das Gefühl geben könnte, nicht willkommen zu sein, ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich
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