Tanz auf Glas
fantastische Aussicht auf Boston und über den Fluss auf Cambridge. In der Mitte des Daches stand ein Wartungsschuppen, und überall ragten Abzugsrohre hervor. In der Ecke mit der schönsten Aussicht waren ein Tisch und ein paar Stühle fest im Dach verankert, aber ich schlenderte zur gegenüberliegenden Ecke und setzte mich.
Vorerst war ich ganz allein, aber das konnte sich jeden Moment ändern, denn das Dach war bei Sonnenuntergang ein beliebter Treffpunkt. Ich ließ die Beine über den Rand baumeln, während ich zusah, wie die Nacht das Blau aus dem Himmel sog. Ein paarmal glaubte ich, die Stahltür hinter mir quietschen zu hören, aber der Lärm der Stadt rauschte bis hierher, so dass ich nicht sicher war. Im Grunde wusste ich, dass Mickey nicht auftauchen würde. Als ich schließlich merkte, dass es schon nach neun sein musste, gab ich auf und winkte dem Morgen schon mal aus der Ferne zu. Wahrscheinlich war es besser so. Ich stand auf und ging über das Dach.
Ich wollte gerade die Tür öffnen, als ich jemanden am Tisch sitzen sah. Er stand auf, und einen Moment lang war ich nicht sicher, ob er es wirklich war. Doch als er auf mich zukam, lugte der Mond hinter einer Wolke hervor und vertrieb den letzten Zweifel. Seine Augen blickten bohrend in meine, und mit drei großen Schritten stand er vor mir. All seine Hoffnungen und Ängste, drängend und unausgesprochen, standen ihm ins Gesicht geschrieben. Einen Augenblick lang sahen wir einander stumm an.
Dann zog Mickey mich grob an sich, beugte sich zu mir herab und küsste mich, als hätte er das Küssen höchstpersönlich erfunden.
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6
8 . Juni 2011
H eute wird mein Freund Nathan Nash seine Frau begraben. Es ist mir ein Rätsel, dass er das noch kann. Ich kenne die Hölle gut, aber die Vorstellung, meine Frau zu verlieren, ist eine unvergleichliche Qual. Die Wirklichkeit, das musste ich feststellen, ist viel grausamer als der Wahnsinn. Wahnsinn kann man medikamentös behandeln, unterdrücken, sedieren. Mit anzusehen, wie Lucy sich auflöste, von innen aufgezehrt wurde, das war eine Mauer, die für mich unmöglich zu überwinden oder zu durchbrechen war. Ich konnte überhaupt nichts tun, als sie im Arm zu halten und zu atmen. Nur weiteratmen, während ihr wunderschönes Haar mir büschelweise in die Hände fiel. Nur weiteratmen, während sie wimmernd mit dem Kopf auf meinem Schoß vor mir lag und das Gift, das sie retten sollte, sich seinen Weg durch ihren Körper brannte. Ich konnte nichts tun, außer zusehen und atmen, bis der Krebs endlich aufgab und sie aus seinen Klauen entließ. Doch das tat er schließlich – flehentliche Gebete wurden erhört, ein Wunder geschah. Lucy ging es allmählich besser. Und dann ging es mir immer schlechter. Meine Erleichterung eskalierte zur Manie, dann zum Wahn. Welch verrückte Ironie. Ich hatte mich so eisern an meine ängstliche Hoffnung geklammert, dass ich kein Ventil dafür fand, als sie nicht mehr nötig war. Der Absturz kam zur Unzeit. Meine Frau erholte sich langsam ohne mich in der Onkologie, während ich mich langsam ohne sie erholte, kilometerweit fort in der geschlossenen Psychiatrie. Als es endlich vorbei war, waren wir einander beinahe fremd geworden, verändert und ganz schwach vor Dankbarkeit. Vorsichtig begannen wir dem Leben und einer zweiten Chance zu vertrauen. Ich glaube, wir haben einander eine ganze Woche lang nicht mehr losgelassen.
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch und erkannte, dass ich eingenickt war, den gerahmten Vertrag an die Brust gedrückt wie das Porträt eines verlorenen Geliebten. Während ich auf dem Bett lag, wurde mir bewusst, dass ich mir fast die ganze Nacht lang unsere Vergangenheit vergegenwärtigt und unsere Zukunft ausgemalt hatte. Jetzt verstand ich endlich, was Mickey damit meinte, dass er sein Hirn einfach nicht abschalten könne.
An diesem Morgen konnte ich einfach nicht damit aufhören, uns beide als Eltern zu sehen, mich als Mutter. Ich sah mich ein nacktes, tropfnasses kleines Mädchen durch den Flur jagen, das aus der Badewanne entwischt war. Ich sah die Kleine mit baumelnden Beinen im Kindersitz auf dem Einkaufswagen sitzen, den ich durch Mosely’s Market schob – ich sah alles ganz genau, bis hin zu einem roten Turnschuh, dessen Schnürsenkel aufgegangen war. Ich sah, wie ich mich bemühte, nicht zu lachen, während sie sich selbst den Pony zu schneiden versuchte. Ich sah Mickey, der mit ihr auf der breiten, gepolsterten Fensterbank in ihrem Zimmer
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