Tanz auf Glas
saß und ihr vorlas. Unsere Tochter in einem Cinderella-Schlafanzug kuschelte sich in die Armbeuge ihres Vaters, der zusammen mit ihr halb hinter einem großen Bilderbuch verschwand.
Nichts hätte mich hierauf vorbereiten können.
Ich hatte den Gedanken daran, jemals Mutter zu werden, schon vor Jahren ausgeschlossen, weil es schlicht nicht anders ging. Als Mickey und ich die Entscheidung dann offiziell machten und ich mir die Eileiter abbinden ließ, hatte ich diese Tatsache so gut wie akzeptiert und jegliches Selbstmitleid so tief vergraben, dass es irgendwann tatsächlich da unten blieb. Ich gab mich damit zufrieden, an fünf Tagen die Woche Ersatzmutter für meine Schüler zu sein, und dachte nicht mehr an Dinge, die einfach nicht sein sollten. Nicht ein einziges Mal habe ich daran gedacht, dass ein wild entschlossener kleiner Schwimmer es durch den Knoten schaffen könnte.
Doch jedes Mal, wenn ich jetzt an dieses Baby dachte – dieses Baby, das es nie hatte geben sollen –, wurde es noch ein wenig realer. Heute sah mein ganzes Leben völlig anders aus.
Das Telefon am Bett klingelte, und ich wusste, dass es Mickey war. Ich nahm ab und nuschelte: »Hallo, bist du mir böse?«
»Ja. Du hast nicht zurückgerufen.«
»Ich weiß. Es tut mir so leid.« Ich gähnte und musste husten. »Ich glaube, ich habe mich erkältet. Ich bin gestern Abend schnurstracks ins Bett gegangen.«
»Ruf Charlotte an.«
»Ist nicht dramatisch«, sagte ich und stand auf. »Aber ich sehe sie nachher beim Gedenkgottesdienst, dann spreche ich sie darauf an. Und was hast du heute vor?«
»Lucy, was ist los? Ich höre an deiner Stimme, dass irgendetwas ist. Sag es mir.«
»Mickey.« Ich seufzte, und es überraschte mich immer noch, wie genau er mich kannte. »Ich bin wohl ein bisschen bedrückt wegen Celia«, log ich. »Ich muss oft an sie denken, weißt du? Ich wünschte, du wärst heute bei mir. Das ist alles.«
»Es tut mir leid, Süße. Ich wäre bei dir, wenn ich könnte, das weißt du doch.«
»Ich weiß … Aber hey, bis Freitag sind es ja nur noch drei Tage.«
»Und Lily und Ron gehen mit dir dahin, oder?«
»Ja, sie kommen mit.«
»Ich werde die ganze Zeit an dich denken, Lu, während ich in der Ergotherapie-Gruppe ein Vogelhäuschen aus Pappmaché bastele.«
Trotz allem musste ich lachen.
Er lachte mit, sein lautes, volles, wunderbar normales Lachen. »Ich merke, dass es mir bessergeht, wenn ich die ganze Veranstaltung hier allmählich als Stoff für ein Buch betrachte.«
»Du klingst so viel besser. Und du kommst bald nach Hause. Wir machen uns ein richtig schönes Wochenende.«
Wir haben so viel zu bereden.
Ich duschte, föhnte mir das Haar und zog mein einziges schwarzes Kleid an, ein weites Flatterkleid mit halblangen Ärmeln. Als ich vor den Spiegel trat, fand ich, dass Schwarz mir ganz gut stand. Es hob mein kastanienbraunes Haar hervor, die helle Haut und die grünen Augen. Von uns drei Houston-Töchtern ähnelte ich unserem Vater am stärksten. Obwohl ich ihn nur gut fünf Jahre lang gekannt hatte, gefiel mir die Vorstellung, dass wir ganz in seiner Nähe wären, wenn er noch leben würde. Ich weiß, dass ich eine Idealfigur des Vaters geschaffen habe, den es nicht mehr gab, aber wie sehr wünschte ich, ich könnte heute mit
diesem
Mann reden! So, wie ich ihn als Vater in Erinnerung habe, wäre ich gern als Mutter – jemand, der auf die schwierigsten Fragen diese magischen Antworten findet, die mir über so viele Jahre hinweg geblieben sind.
Dann tat ich etwas sehr Dummes. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, ich schnappte mir ein Kissen vom Bett und stopfte es mir unter das Kleid. Da stand ich, vielleicht etwas falsch proportioniert – ungefähr im fünfzehnten Monat. Doch als ich mich so im Spiegel sah, verschlug es mir den Atem. Es würde schon gutgehen, nicht wahr? Ja, wir hatten das hier nicht geplant, sondern im Gegenteil alles getan, um es zu verhindern. Aber es war trotzdem passiert. Es würde deshalb gutgehen. Ich würde aufpassen wie ein Schießhund und mich jeden Monat von Charlotte untersuchen lassen, damit wir sofort etwas unternehmen konnten, falls sich meine Blutwerte irgendwie veränderten.
Und wer weiß? Ein Baby konnte Mickey vielleicht aus seiner bipolaren Störung heraushelfen. Alles war möglich, oder nicht? Mickey hatte sich letztendlich fast jeder Situation gewachsen gezeigt. Mickey, mein wunderbarer Mickey, war derselbe Mann wie immer. Das hieß noch lange
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