Tanz auf Glas
sie an. Er brüllte obszöne Beleidigungen, und die Sehnen an seinem Hals standen wie gespannte Taue hervor. Die Raserei – das Grauen, die Verzweiflung, der völlige Kontrollverlust – raubte mir den Atem. Ich weiß noch, dass ich fürchtete, ich würde ohnmächtig werden, dass ich die Treppen hinunter und nach draußen rannte, um wieder Luft zu bekommen.
Was wollte ich mit diesem Mann?
Gleason Webb fand mich draußen auf der Bank. Gefühlsausbrüche waren nicht seine Art, er setzte sich nur neben mich und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. So saßen wir ein paar Minuten lang da, bis ich mich ihm zuwandte und fragte: »Was geschieht mit ihm?«
»Das, was geschieht, wenn die Manie außer Kontrolle gerät.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Eine ausgeprägte Manie schlägt rasch in eine Psychose um. Mickey hat diese Schwelle überschritten.«
»Ich habe die Schwelle gar nicht gesehen. Wie konnte ich so dumm sein?«
»Sie wussten ja nicht, wonach Sie Ausschau halten müssen. Und ich kann nicht sagen, ob Mickey es selbst gemerkt hat, ehe es zu spät war und er nicht mehr umkehren konnte.« Gleason zuckte mit den Schultern. »Er war so glücklich, seit er Sie kennengelernt hat, Lucy, aber bei ihm liegen Freude und überschwengliche Hochstimmung sehr dicht beieinander. Wenn er die Grenze dazwischen überschreitet, kann das dabei herauskommen.«
»Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er so sein könnte. Ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme.«
Gleason sah mich an. »Dieser Zustand ist wirklich überwältigend. Aber so sieht er aus, Lucy. Mickey war schon einmal an diesem Punkt, und er wird wahrscheinlich wieder dorthin kommen. Das ist das Wesen seiner Erkrankung.«
»Wie oft war er schon so?«
»Ein paarmal.«
»Und wir können nichts dagegen tun?«
»
Wir
haben keinerlei Macht darüber, Lucy. Die liegt allein bei Mic. Alles hängt davon ab, wie
er
mit seiner Krankheit umgeht. Zusammenfassend könnte man sagen, dass er sich gut fühlen will – jeder Mensch will das – und deshalb versucht, auf der Schwelle zu balancieren, ohne herunterzufallen. Wenn er sich schlecht fühlt oder glaubt, er rutsche in die Depression ab, spielt er eigenmächtig mit seinen Medikamenten herum, um oben zu bleiben. Das führt manchmal zu irrationalen Gedanken, und wenn er dann zu korrigieren versucht, kann alles noch schlimmer werden. Mickey ist chronisch krank, Lucy. Und selbst wenn nach außen hin alles gut aussieht, kann eine nächste Episode wie diese schon dicht unter der Oberfläche lauern.«
»Warum habe ich nichts gemerkt?«
»Es dauert lange, bis man jemanden wie Mickey kennt. Er ist eine riesige Zwiebel, und die Schichten seiner Krankheit, seiner Persönlichkeit und seines Charakters einzeln abzuschälen ist eine große Herausforderung.« Gleason sah mir ernst in die Augen. »Sie können ihn nicht heilen. Und wenn Sie jetzt kalte Füße bekommen, dann ist das absolut verständlich.« Gleason zog die dicken, grauen Augenbrauen zusammen und beobachtete mich genau.
»Ich hatte ja keine Ahnung …«
»Dann ist es gut, dass Sie das jetzt zu sehen bekommen, Lucy. Beim nächsten Mal sind Sie nicht mehr so überrascht. Vorausgesetzt, Sie sind beim nächsten Mal noch da.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Das glaube ich gern.«
»Gleason, ich habe Angst«, sagte ich und kämpfte mit den Tränen. »Ich liebe ihn … aber …«
»Angst ist völlig gesund.« Er tätschelte aufmunternd meine Schulter.
Nach einer Weile fragte ich: »Könnte er mir etwas antun?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Im Augenblick würde er vermutlich sogar seiner Krankenschwester etwas antun, wenn er nicht fixiert wäre. Aber das ist die Psychose. Sie werden lernen, die Anzeichen zu erkennen, bevor er diesen Punkt erreicht.«
Ich schwieg lange und dachte darüber nach. Auch Gleason schwieg. Nach ein paar Minuten wandte ich mich ihm zu. »Sagen Sie mir, wie mein Leben aussehen wird, wenn ich ihn heirate.«
Mickeys Arzt betrachtete mich einen Augenblick lang und holte dann tief Luft. »Lucy, jede Ehe ist ein Tanz – mal kompliziert, mal wunderschön, meistens wenig aufregend. Aber mit Mickey werden Sie manchmal auf Glasscherben tanzen. Das wird weh tun. Und entweder fliehen Sie vor diesem Schmerz, oder Sie halten sich noch besser fest und tanzen weiter, bis Sie wieder Parkett unter den Füßen haben.«
Während ich diese Worte in mein Bewusstsein dringen ließ, flossen die Tränen über. »Ich kann mir ein
Weitere Kostenlose Bücher