Tanz auf Glas
Leben – meine Zukunft – ohne ihn nicht vorstellen, aber ich weiß nicht …« Ich wischte die Tränen fort und fuhr mir mit den Händen durchs Haar. »Sie haben recht, Gleason. Es war gut, dass ich das jetzt miterlebt habe.« Ich sah ihn an. »Glauben Sie, dass ich es schaffen könnte?«
»Diese Frage können nur Sie beantworten, Lucy.«
»Aber … lerne ich, diese Schwelle zu erkennen?«
Er nickte. »Mic wird Ihnen dabei helfen. Ein sehr positiver Faktor bei ihm ist, dass er nicht krank sein will. Er will sich nicht von seiner Krankheit diktieren lassen, wer er ist. Er bemüht sich um Compliance, und meistens schafft er es, die verschriebene Medikation einzuhalten. Und wenn er es nicht schafft,
kann
das passieren, was heute passiert ist – aber so weit kommt es keineswegs immer.« Gleason sah mich eindringlich an. »Trotz alledem, Lucy – niemand könnte Sie mehr lieben als er.«
Ich versuchte zu lächeln. »Warum liegt er Ihnen so am Herzen, Gleason? Sie können sich unmöglich allen Ihren Patienten derart persönlich widmen.«
Mickeys langjähriger Psychiater seufzte wehmütig. »Ich habe vor langer Zeit eine Patientin verloren. Das war ein schlimmer Suizid, einer der übelsten meiner gesamten Laufbahn.« Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte einfach nicht genug tun, um sie zu retten, und ich war am Boden zerstört. Beinahe hätte ich meinen Beruf aufgegeben. Ich ging zu ihrer Beerdigung, und ich weiß noch, dass ich in der letzten Reihe saß und über berufliche Alternativen nachgedacht habe, als plötzlich dieses magere Kerlchen auftauchte. Der Junge setzte sich einfach neben mich und sagte lange nichts. Kein Wort. Dann sah er mich mit dicken Tränen in den Augen an und sagte: ›Sie können nichts dafür, Doktor Webb. Meine Mom wollte einfach sterben, unbedingt.‹« Gleason straffte die Schultern. »Zwei Wochen später erschien er bei mir in der Praxis und bat mich nachzuschauen, ob er ›Wahnsinn‹ hätte. Er sagte, er würde alles tun, jede Operation auf sich nehmen, jede Pille schlucken, wenn er nur nicht so werden müsse wie seine Mutter. Und das an seinem Geburtstag. Er war gerade einmal zwölf.« Gleason schüttelte den Kopf. »Seither sind wir beide zusammen.«
Ich wischte mir frische Tränen von den Wangen. »Davon hat er mir gar nichts erzählt.«
»Das tut er sicher noch.«
»Er ist wirklich unglaublich, oder?«
»Lucy, mir ist noch nie jemand begegnet, der sich so sehr bemüht, nicht krank zu sein, und der es schwerer nimmt, wenn es dann doch dazu kommt. Mickey ist ein außergewöhnlicher Mensch, der zufällig auch an einer geistigen Erkrankung leidet. Wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte, würde ich sagen: Konzentrieren Sie sich auf
diesen
Mickey.«
Ich nickte.
»Arbeiten Sie sich durch das ganze Kleingedruckte. Wenn Sie unter all seinen Symptomen einen Mann finden, den Sie wirklich lieben, dann prägen Sie sich diesen Mann gut ein. Und machen Sie sich klar, dass
dieser
Mann manchmal verloren gehen wird.«
Auf dem ganzen Heimweg weinte ich wie ein Kleinkind. Ich heulte vor Wut darüber, dass Liebe den Schlamassel nicht lösen konnte, in dem ich steckte. Noch wütender machte mich, dass ich das als Schlamassel betrachtete. Als ich mich auszog, um ins Bett zu gehen, rutschten die Blätter Papier, die ich in Mickeys Küche gefunden hatte, aus meiner Hosentasche. Ich strich sie glatt und erkannte kaum die Handschrift. Das Gekritzel in schiefen Zeilen sah aus wie von einem Kind geschrieben, in großer Hast, vielleicht auch Verzweiflung. Es fehlten sämtliche Satzzeichen und gegen Ende gingen einzelne Wörter ohne Abstand ineinander über.
Lucy,
ich rase ich habe etwas Schlimmes getan und als ich es gemerkt habe habe ich es niemandem gesagt Ich habe es weder Dir noch Gleason oder sonst jemandem gesagt weil es sich so herrlich anfühlt so viel Energie zu haben und Selbstvertrauen Ich fühle mich unbesiegbar wie allmächtig Jetzt bin ich zu schnell und kann allein nicht anhalten und es wird etwas passieren wovor ich Dich warnen will damit Du keine Angst hast Du sollst nie Angst vor mir haben ich würde sterben wenn ich Dir Angst mache Lucy Ich bin nervös und hektisch kann nicht mal beim Schreiben still sitzen muss immer überlegen was ich tun kann um dieses Gefühl festzuhalten nach gestern zurückgehen war ein guter Tag und mich auf heute freuen war ein noch besserer Tag bis jetzt Der Teil von meinem Gehirn der noch funktioniert weiß dass ich zusammenbrechen werde bin
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