Tanz auf Glas
sagen. Aber ich hoffe, dass du mich verstehst. Es hat nichts mit dir zu tun. Oder mit deinem Baby. Nur mit mir.«
»Es tut mir so leid, Lil. Das wusste ich nicht.«
»Du sollst dich nicht entschuldigen! Ich wollte es dir nur erklären.«
»Du brauchst mir nichts zu erklären. Es ist schon gut. Alles wird gut.«
Lily rückte von mir ab und starrte mich in gespielter Wut an. »Wie machst du das bloß? Wie bleibst du immer so lieb und nett? Mit dir stimmt doch etwas nicht, Lucy, und dafür hasse ich dich wirklich!«
Ich lachte leise.
»Das ist nicht witzig, Lucy. Du sollst dich mit mir streiten. Ich war abscheulich zu dir. Aber du streitest nie. Du wachst auf und Mickey hat wieder irgendetwas getan, das euer Leben durcheinanderbringt, aber du beklagst dich nie. Mom stirbt und lässt dich im Stich, als du sie am meisten brauchst. Grässliche Dinge geschehen und du stellst dich einfach darauf ein! Ich verderbe dir den großen Augenblick, deine gute Neuigkeit zu verkünden, und dann willst du nicht einmal böse mit mir sein. Also, was stimmt nicht mit dir?«
Dazu gab es nichts mehr zu sagen, also entgegnete ich: »Priscilla ist schuld.«
»Ja,
sie
ist schuld.« Lily sank in sich zusammen. Dann musste sie lachen, und ich ließ mich anstecken. Wenn wir einen Schuldigen für irgendetwas brauchten und niemand anderen fanden, schoben wir die Schuld stets Priscilla in die Schuhe.
Lily überreichte mir ein Geschenk. Zwei, genau genommen. Das waren die winzigsten Schuhe, die ich je gesehen hatte: zwei Paar knöchelhohe Turnschuhe. Die für den Jungen waren leuchtend orangerot, die für ein Mädchen puderrosa.
Nachdem Lily und ich geweint und gelacht, Tee getrunken und ein paar von Dads Liebesbriefen gelesen hatten, ging sie nach Hause, um den Schmorbraten in den Ofen zu schieben. Sie hatte uns zum Abendessen eingeladen, und ich wollte einen Salat mitbringen. Lily gab sich Mühe – sie versuchte trotz ihres Kummers, sich für mich zu freuen. So war sie schon immer gewesen. Genau wie das Mädchen im Märchen meines Vaters, die sanfte Schwester, die sich stets zu viele Sorgen machte und zu selten lachte.
Dads Geschichte habe ich Lily nie gezeigt. Der Nachmittag verflog, indem wir seine Briefe lasen, und bis wir merkten, wie spät es geworden war, und sie gehen musste, war mir etwas Besseres eingefallen.
Als Lily gegangen war, sammelte ich Dads Unterlagen ein, und da hörte ich drüben Jan in ihrer Einfahrt halten. Kurz darauf lief ich durch den Garten und klopfte an die Hintertür, und Jan trällerte: »Herein!« Sie stand an der Spüle und wusch gerade eine große Traube Weinbeeren. Die Handtasche baumelte noch von ihrer Schulter, die dunkle Sonnenbrille lugte aus ihren weißen Haarspitzen. Sie stellte das Wasser ab und sah mich an.
»Hallo, Kleines. Möchtest du etwas Obst?« Sie legte die Weintrauben auf die Arbeitsfläche und holte ein Körbchen Erdbeeren aus einer Einkaufstüte. »Setz dich, unterhalten wir uns ein bisschen.«
Ich betrachtete sie, wie sie da an der Spüle stand wie ein Model, das sich in ein Lebkuchenhäuschen verirrt hat: majestätisch und makellos gepflegt vom Scheitel bis zu den rotlackierten Zehennägeln, ein einreihiges Diamantarmband am knochigen Handgelenk. Sie grinste mich an, und in diesem Grinsen witterte ich ein Geheimnis.
»Du weißt es schon, oder?« Ich wartete darauf, dass sie es abstritt.
»Was soll ich wissen?«, fragte sie und spielte die Ahnungslose – ziemlich schlecht.
»Wo kommst du gerade her? Warst du im Laden? Im
Ghosts?
«
»Ich habe nur kurz vorbeigeschaut, um meinen Sohn zu sehen …« Sie lächelte, mütterlich und herzlich. »Ich freue mich so für dich, Schätzchen.«
»Wirklich?«
»Ja, natürlich!« Sie stellte die Obstschale auf den Tisch und nahm mich in die Arme. »Ich mache mir auch Gedanken, Lucy, aber … Das sind wunderbare Neuigkeiten!« Sie trat zurück und umfasste mit einer Hand mein Kinn, und ich sah ihr an, dass ihre Freude nicht geheuchelt war. Ebenso wenig wie ihre Besorgnis. Sie wusste von meiner Vereinbarung mit Mickey. Ich wollte mich für den Glückwunsch bedanken, aber meine Kehle war wie zugeschnürt, und es kam nur ein Quietschen heraus.
»Hast du auch Lily gesehen?«, brachte ich schließlich hervor.
»Nein.«
»Das ist nicht leicht für sie.«
Nickend zupfte Jan eine Weintraube ab. »Das glaube ich gern. Hab Geduld mit ihr, Liebes. Die Sache mit diesem kleinen Jungen hat ihr wahrhaftig das Herz gebrochen.«
»Ich würde alles
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