Tanz auf Glas
tun, um sie nicht zu verletzen.«
»Das weiß sie.«
Ich blickte mich in Jans weißgetünchter Küche um. Eine Hälfte diente ihr derzeit als Atelier. Nicht weil sie kein richtiges Atelier gehabt hätte – nur ein paar Zimmer weiter –, sondern weil das Licht hier in der Küche um diese Jahreszeit etwas Besonderes war. Sommerlicht: ideal für Porträts. Ich ging zur Staffelei und bewunderte die grobe Skizze, die das Bild einer schönen jungen Frau versprach.
»Das ist Jessica Nash«, bemerkte Jan.
»Ach, Jan, wie geht es ihr?«
»Die arme Kleine tut sich schwer. Aber ich glaube, sie ist froh, wieder zu Hause bei ihren Freundinnen und Großeltern zu sein. Am Tag nach der Trauerfeier war sie hier, um sich meine Illustrationen für das Buch ihrer Mutter anzusehen, und wir haben uns stundenlang unterhalten. Ich konnte einfach nicht widerstehen, sie zu zeichnen.«
»Sie ist sehr schön.«
Jan nickte. »Sie hat auch nach deiner Mutter gefragt. Ich war ganz erstaunt, dass sie die Geschichte kannte.«
»Ich habe sie ihr auf dem Friedhof erzählt. Weil ich dachte, es hilft ihr vielleicht ein bisschen, wenn sie weiß, dass jemand anderes das auch durchgemacht und es überlebt hat.« Wieder huschten Erinnerungen an meine Eltern durch meinen Kopf und mir fiel wieder ein, weshalb ich eigentlich hier war. Ich holte den Briefumschlag aus der Tasche und reichte ihn Jan. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
Als ich nach Hause kam, fand ich eine Nachricht von Gleason auf dem Anrufbeantworter vor: »Wie ich erfahren habe, kann man euch gratulieren. Mickey klingt sehr glücklich. Mic, wir sehen uns in ein paar Tagen. Lucy, es wäre schön, wenn Sie mitkommen.«
Ich lauschte seiner Stimme mit einem leicht mulmigen Gefühl im Bauch. Dabei konnte ich nicht einmal genau sagen, was mir an seiner Nachricht auf die Stimmung schlug. Nein, es waren gar nicht seine Worte. Sondern die Tatsache, dass Mickey ihn angerufen hatte. Warum hatte Mickey das getan? Warum konnte er nicht die paar Tage bis zu seinem Termin warten, um Gleason zu erzählen, dass wir ein Kind bekamen? Hatte er Angst?
Auf einmal musste ich daran denken, wie wir vor vielen Jahren in Gleasons Sprechzimmer gesessen und unseren verflixten Vertrag ausgearbeitet hatten. Die »Keine Kinder«-Klausel hatte noch nicht in dem Entwurf gestanden. Wir hatten sie erst nach meiner Krebserkrankung und Mickeys schwerstem Zusammenbruch hinzugefügt. Alle Ergänzungen hatten Mickey und ich allein daruntergeschrieben. Bekam Mickey etwa doch kalte Füße?
Der Abend wurde kein bisschen besser. Mickey war ärgerlich wegen Gleasons Anruf, und wir kamen ein wenig missgelaunt bei Lily an. Meine Schwester war steif und kaum auszuhalten, das ganze Abendessen verlief gequält und unbehaglich. Ich konnte es kaum erwarten, wieder zu gehen.
Mickey und ich spazierten schweigend nach Hause, doch wir hielten dabei Händchen. Als wir von der Gambol Street in die Chestnut Street abbogen, drückte Mickey meine Finger. »Alles in Ordnung, Lu?«
»Ja, ja.«
Mickey zog mich an sich. »Bist du wütend auf Lily?«
»Wie könnte ich wütend auf sie sein? Es war einfach ein blöder Abend. Das renkt sich schon wieder ein.«
Mickey küsste mich auf die Stirn. »Das mit Gleason tut mir leid. Ich habe mich nur darüber geärgert, dass er bei uns angerufen hat.«
»Warum?«
»Niemand soll denken, ich käme damit nicht zurecht. Weder du noch er. Ich habe ihn nur angerufen, um ihm die frohe Botschaft mitzuteilen, weil ich so aufgeregt bin.«
Ich blickte zu ihm auf. »Bist du sicher?«
»Ja, ganz sicher. Aber er kennt mich …«
Ich strich mit einer Hand über Mickeys Arm. »Bitte, du darfst mir nichts verheimlichen, Mic. Dazu ist die Sache viel zu wichtig. Viel zu gewaltig.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, wenn du Angst hast, dann will ich das wissen. Hast du Angst?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Ich habe Gleason nicht angerufen, weil ich Angst habe, Lucy. Sondern weil ich alles richtig machen will. Ich will das nicht vermasseln. Dich nicht im Stich lassen. Oder … es.«
»Dann tu es auch nicht.«
Mickey lachte dumpf.
Wir legten den Rest des Spaziergangs schweigend zurück, und als wir zu Hause ankamen, setzten wir uns auf die Vordertreppe. Es war eine stille Nacht, der Himmel voller Sterne. Ich konnte gedämpft den Fernseher von Jan und Harry hören, und den fernen Lärm eines Softballspiels im Park. Ich atmete tief durch und schmiegte mich an
Weitere Kostenlose Bücher