Tanz der Engel
ich leise. Lauter wagte ich nicht, diese Frage zu stellen.
»Das kann ich dir nicht sagen – auf jeden Fall wird sie es schwerer haben als dein Vater.«
»Habe ich meine Engelsseite von ihm?«
»Ja. Der Engelsanteil bei deinem Vater ist überdurchschnittlich hoch.«
»So wie das Dämonenerbe bei meiner Mutter«, mutmaßte ich.
»Deshalb besitzt du beides. Einen hohen Dämonenanteil und eine starke Engelsseele«, erklärte Christopher.
»Warum hast du mir nie etwas davon erzählt? Und versuch nicht zu behaupten, es wäre dir nicht aufgefallen, wie meine Mutter riecht!«
»Als ich sie kennenlernte, spielte das noch keine Rolle. Nur weil ich ihr Dämonenerbe wahrnehmen konnte, hieß das nicht, dass du das Potential besitzt, ein Racheengel zu werden. Sie hat dir alles mitgegeben, genauso wie dein Vater, was höchst selten vorkommt.« Christopher stand auf. Er wollte wieder nach unten, doch ich war noch lange nicht fertig.
»Warum meine Eltern? Was, wenn ich … wenn ich anders reagiert hätte?« Christopher wusste, dass ich mit anders reagiert zum Monster mutiert meinte.
»Glaubst du, es gibt Menschen, die weniger wert sind und deshalb bessere Versuchskaninchen abgeben?« Christophers Frage schockierte mich. Dachte er wirklich so über mich?
Ich wich seinem forschenden Blick nicht aus. Er sollte sehen, wie sehr seine Frage mich getroffen hatte, und erkennen, dass meine Antwort ehrlich war.
»Nein. Im Gegensatz zu euch« – ich meinte damit die Engel – »sortiere ich nicht in brauchbar und fehlerhaft.«
Christophers steile Falte erschien auf seiner Stirn. Meine Antwort gefiel ihm nicht. »Es gäbe keine Menschen mehr, wenn wir das nicht tun würden. Außerdem bist du jetzt Teil des Ganzen. Deine Aufgabe ist es, Engel, deren Dämonenerbe zu mächtig wird, zu erkennen und zu töten.«
Ohne ein weiteres Wort ließ Christopher mich allein. Racheengel töteten! Und ich war gerade dabei, einer zu werden.
Kapitel 19
Verplant
F rüh, aber ausgeschlafen, wartete ich in der verwaisten Eingangshalle auf Aron und Christopher. Ich stand nicht mehr unter Dauerbewachung. Sie setzten auf die Stärke meiner Engelsseele. Deshalb sollte ich ab heute, eineinhalb Wochen nach Ende der Herbstferien, gemeinsam mit Christopher im Internat wieder die Schulbank drücken. Es wäre wichtig, den Kontakt zu Menschen aufrechtzuerhalten, solange meine natürliche Lebenszeit noch nicht abgelaufen sei, erklärte Aron. Danach konnte ich – wie alle Engel – nicht mehr ungehindert die Welten wechseln.
Dass mein altes Leben weiterging, beruhigte mich: Ich konnte meine Eltern wiedersehen und mich mit meinen Freunden treffen. Alles, was ich liebte, blieb – aber leider auch Hannah und das Büffeln fürs Abitur.
Dass ich jetzt in zwei Ausbildungssystemen gleichzeitig steckte, bedeutete Unterricht bis zum Umfallen. Unter der Woche Schule im Internat, danach Training mit Aron und am Wochenende Engeldrill von morgens früh bis spät in die Nacht. Als Aron mir den Stundenplan zeigte, dachte ich zuerst, er wolle mich auf den Arm nehmen. Fehlanzeige! Zumindest verzichtete er unter der Woche auf das gemeinsame Um-den-See-Rennen. Diese Aufgabe, samt Krafttraining, übernahm Christopher. Meine Freistunde zwischen Studierzeit und Abendessen musste ich dafür opfern. Wenigstens ließ Aron mir die Stunde am Abend, damit ich meine menschlichen Kontakte pflegen konnte .
Christopher erschien allein im Foyer. »Aron lässt sich entschuldigen«,erklärte er. »Und da er dir recht gibt – was die Brosche betrifft –, fand auch er, dass ich dir das hier wiedergeben soll.« Er kramte einen kleinen, dunkelblauen Samtbeutel aus seiner Hosentasche und zog aus ihm das silberne Armband mit dem verkratzten Engelsmedaillon, das bei meinem missglückten Drachenflug in der Tiefe verschwunden war.
»Du? Aron hat dafür gesorgt, dass es verloren ging? Damit ich nicht aus Versehen bei dir aufkreuze, nicht wahr?!« Irgendwie hatte ich geahnt, dass Christopher mich hintergangen und im Unklaren gelassen hatte. Dass er mir das Medaillon erst jetzt zurückgab, ärgerte mich. Ein wenig Vertrauen seinerseits und Sanctifers Dolch wäre niemals in meinen Händen gelandet.
»Ja. Weil ich wusste, dass du alles tun würdest, um in meine Welt zu gelangen – und einem Zugang hattest du dich schon viel zu dicht genähert.«
»Und welchem?«
»Dem in der Einsiedelei.«
»Sie hätten mich niemals reingelassen.«
»Das Risiko erschien mir dennoch zu hoch. Du hättest einen Weg
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