Tanz der Engel
den Blick in die Berge. Dort oben hatte ich Stunden verbracht. Allein oder mit Freunden, aber immer glücklich.
»Und jetzt mach die Augen auf und klettere weiter.«
Aron führte mich ebenso präzise hoch auf den Baum wie durch den Kamin. Ich ließ mich auf ihn ein und erreichte das Ziel in der Baumkrone. Eine Slackline spannte von hier hinüber zum Schlossdach, gut zwanzig Meter über der Wiese und dem Burggraben – mindestens dreimal so lang wie das Übungsseil. Selbst ein einziger Schritt auf dieser dünnen Schnur war einer zu viel.
»Das … schaffe ich nie«, flüsterte ich und krallte mich an Arons Arm.
Er zwang mich nicht, weiterzugehen, hielt mich nur fest und begann wieder, beruhigend auf mich einzureden. Als besäße seine Stimme Zauberkräfte, entspannte sich mein Körper. Meine Beine hörten auf zu zittern, meine Hände entkrampften sich.
»Das reicht. Genug gelernt für heute«, sagte Aron, breitete seine Flügel aus und flog mich nach unten.
Als ich mit Aron zur Schulversammlung ging und zum ersten Mal die Aula betrat, seitdem feststand, dass ich ein Racheengel wurde, gab es weder Getuschel noch ängstliche Blicke – allerhöchstens böse von Susan. Egal wo ich hinsah, die Engelschüler wirkten entspannt.
Paul entdeckte uns und entführte mich, um mir Hannes, den neuen Schutzengelanwärter mit den aschblonden Haaren, vorzustellen. Hannes wirkte ziemlich sympathisch, sobald er lächelte, doch meine Aufmerksamkeit wurde schnell von Christopher angezogen. Er stand bei Aron, der gerade die offiziellen Anmeldebedingungen des bevorstehenden Bogenschießwettkampfs erklärt hatte. Sie flüsterten, doch ihre Körperhaltung verriet den Streit: zurückgehaltener Ärger bei Christopher und ein massives Abwehrverhalten bei Aron.
Natürlich reichte mein Hörvermögen nicht aus, um das Gespräch zu belauschen. Dass es um mich ging, wurde mir allerdings schnell klar – beide verstummten, als sie bemerkten, dass ich sie beobachtete.
Kurze Zeit später hetzte Aron mich um den See. Sicher, damit ich zu atemlos war, um ihn nach dem Streit mit Christopher zu fragen. Auch das anschließende Krafttraining gestaltete er intensiver als sonst. Danach fühlte sich mein Körper wie Pudding an – was wiederum Ekin bemängelte. Ich versuchte dennoch, mein Bestes zu geben, und wurde von meinem Schwertmeister mit Nachsicht belohnt.
Schließlich schraubte Aron seine Anforderungen wieder herunter. Vielleicht erkannte er endlich, wie erschöpft ich nach einem ganzen Tag Aronstress war und dass ich ein paar Streicheleinheiten dringend nötig hatte. Anstatt Christopher das übernehmen zu lassen, kümmerte er sich selbst darum – natürlich in Form einer weiteren Trainingseinheit.
Nach Ekins Stunde blieben wir auf dem von Fackeln erhellten Burgwall. Aron gab mir Zeit, zur Ruhe zu kommen, und ließ mich in die Flammen des kleinen Lagerfeuers blicken, bis ich spürte, wie mein Herzschlag sich verlangsamte.
»Schließ die Augen, und stell dir vor, wie es war, mit Christopher zu fliegen«, begann er mich mit seiner klangvollen Stimme einzulullen.
Die Bilder waren sofort da: beängstigende Höhe besiegt von grenzenloser Geborgenheit. Es gab keine größere Sicherheit, als von Christopher gehalten zu werden. Kein noch so tiefer Abgrund würde das je ändern. Aron verstärkte dieses Gefühl, beschrieb Details, Gerüche, den Wind, um meine Erinnerungen zu vervollständigen.
»Und jetzt sieh den Abhang hinunter. Stell dir vor, von Flügeln getragen zu werden.«
Der Abgrund erschien, die Flügel nicht. Wie bei meinem Drachenflug stürzte ich in die Tiefe. Doch dieses Mal bremsten keine Bäume den Sturz. Ein bodenloser Schlund öffnete sich und verschlang mich in seiner Dunkelheit.
Aron befreite mich von der Panik, rüttelte mich wach, legte seinen Arm um meine Schultern und hielt meinen zitternden Körper so lange fest, bis ich wieder Luft bekam.
Christopher erwartete uns an der Schlosstreppe. Sein Blick war eisig. Bestimmt kannte er das Ziel der Unterrichtsstunde und war nicht damit einverstanden, dass Aron das übernahm. Er forderte ihn sicherlich nur deshalb nicht auf der Stelle heraus, weil er mit mir in den Armen nicht kämpfen konnte. Wie eine Klette klammerte ich mich an Christopher. Ich brauchte Sicherheit – und die fand ich nur bei ihm.
Einmal den See zu umrunden schaffte ich inzwischen mühelos. Aber das Ganze noch vor dem Frühstück? Lange wach bleiben lag mir, früh aufstehen nicht unbedingt. Aron war das egal.
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