Tanz der Engel
Meine Kondition war ihm wichtiger als meine Laune. Immerhin jagte er mich danach nicht über ein Hochseil, sondern nur über die kniehohe Slackline auf dem Burghügel. Erst als ich sicher hin- und herbalancierte, schickte er mich wieder auf den Hindernisparcours durchs Schloss.
Auch dieses Mal half er mir durch den Kamin und beim Baumhochklettern. Aron ging äußerst behutsam vor. Er griff ein, nochbevor ich unsicher wurde, und schaffte es, mich bis in die Baumkrone zu bringen. Dort jedoch kehrte meine Angst zurück. Nur von einem dünnen Band gehalten einen zwanzig Meter tiefen Abgrund zu überwinden überstieg meine Fähigkeiten.
Aron löste meine Finger von dem Ast, an den ich mich festklammerte. Panik überfiel mich. Erwartete er etwa, dass ich jetzt über das Seil balancierte?!
»Du kannst das. Stell dir vor, wie es ist, in der Luft zu schweben.«
»Wäre es nicht besser, abzuwarten, bis ich …«, ich geriet ins Stocken. Engel besaßen Flügel, ich nicht!
Aron seufzte frustriert. »Wenn das bei Racheengeln so einfach wäre, würde ich dich jetzt vom Baum schubsen. Du bist kein geborener Engel. Niemand kann dir sagen, wie lange es dauern wird, bis dir Flügel wachsen. Aber je fitter du bist und je kräftiger deine Muskeln sind, umso einfacher wird später das Fliegen für dich sein. Die wichtigste Grundvoraussetzung fehlt dir jedoch: Du musst deine Höhenangst überwinden!«
Darum also der ganze Aufwand. Bevor Aron mich mit dem Drachen abstürzen ließ, kannte ich so etwas wie Höhenangst nicht. Aron fühlte sich schuldig. Ich wich zurück und klammerte mich an einen der Äste. Arons Eingeständnis half mir nicht, meine Angst zu überwinden. Im Gegenteil. Er würde nicht lockerlassen. Irgendwann würde er mich aufs Seil zwingen.
»Lynn, es tut mir unendlich leid«, begann Aron. »Wenn ich gewusst hätte, welche Auswirkungen der Drachenabsturz auf dich hat, wärst du an diesem Tag krank geworden.« Meine Phobie ging ihm wirklich nahe.
»Auch Engel machen Fehler«, antwortete ich. »Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass ich alles vergessen hätte. Aber …«
Der Abgrund tauchte wieder auf. Mein Körper reagierte. Blut sackte mir in die Beine. Wie festgeklebt stand ich da und zittertemit den letzten Blättern im Wind, bis Aron seine Flügel ausbreitete, mich nach unten flog und mir eine Pause in meinem Zimmer gönnte. Erschöpft schlief ich ein und kam erst wieder zu mir, als Christopher mich am Abend weckte.
»Ich soll dich zu Ekin begleiten. Und danach hast du deine erste Stunde bei mir.«
Kapitel 20
Ausgetrickst
D u hättest ihr nichts verraten sollen!«, meckerte Ekin mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »So unkonzentriert war sie noch nie!« Er unterstrich seine Kritik mit einem gezielten Tritt in meine Kniekehle. Ich knickte ein, verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorn.
Mich am Boden zu sehen begeisterte Ekin immer wieder aufs Neue, dass ich dabei nicht aus der Haut fuhr, Christopher. So hatten beide Engel ihren Spaß, während ich Ekins Nahkampftraining erdulden musste. Dennoch, Ekin lag richtig. Meine Konzentration ließ wirklich zu wünschen übrig. Die Aussicht, mit Christopher zu kämpfen, verwirrte, beunruhigte und erregte mich gleichermaßen. Trotz meines Drängens hatte er mir nur verraten, wo er mich ausbilden würde, nicht, worin . Dass dabei eine Waffe zum Einsatz kommen würde, vermutete ich aufgrund der mit Silberbeschlägen eingefassten Holzkiste, die sonst nicht unter den Bäumen stand.
Schon als Christopher sie öffnete, wurden meine Knie weich. Seine geschmeidigen Muskeln hatten auf Kampfmodus umgeschaltet. Sein Gang drückte Härte und Unnachgiebigkeit aus. Wie sollte ich gegen ihn bestehen, wenn schon der bloße Gedanke an seinen Körper mich derart ablenkte?
Ekin bemerkte meine geweiteten Augen. Immerhin besaß er den Anstand, sich wegzudrehen, bevor er laut losprustete. Mir dagegen verging das Grinsen: Zehn spitze, sichelförmig gebogene Krallen, halb so lang, aber nicht weniger scharf als Sanctifers Dämonendolch, ragten aus zwei handgroßen Flügelplatten.
Während Christopher sich näherte, wich ich zurück. Der einzige Unterschied zwischen den Klauen, während er ein Schattenengel war, und den Teilen, die er in der Hand hielt, war die Farbe: Sie waren silbern und nicht von roten Adern durchzogen.
»Du wirst lernen, mit ihnen umzugehen – vorerst mit diesen hier.« Christopher hielt die monströsen Silberteile hoch. »Die Klauen eines Racheengels sind
Weitere Kostenlose Bücher