Tanz der Engel
Schleier zogen auf. Ich wehrte mich nicht länger gegen Paul – er wusste sicher besser als ich, was er tat.
Während ich meine Schattenseite zurückdrängte, stellte sich Sebastian vor Leonie und die beiden anderen. Er war bereit, sie zu verteidigen und gegen mich zu kämpfen, falls Paul die Kontrolle über mich verlor.
Die Erwartungen der Engelschüler erschreckten mich. Obwohl ich bewiesen hatte, dass ich meine Schattenseite im Griff hatte, war ich in ihren Augen der Racheengel: stark, mächtig und fähig zu töten.
Ein pausbäckiges Gesicht mit aschblonden Babylöckchen und einem pummeligen Körper tauchte zwischen mir und Sebastian auf. So kindlich Oktavian auch wirkte, er war alles andere als sanftmütig. Seine babyblauen Augen starrten mich kaltherzig an.
»Was ist hier los?!«, wandte er sich an Paul, der mich noch immer im Griff hatte.
»Ein kleiner Fehlschuss, der Sebastians Empfindlichkeit getroffen hat.«
Oktavian entdeckte den Kaugummi in Sebastians Haaren, verkniff sich ein Grinsen und widmete sich mir. »Ein wenig Einzelunterricht wird dir helfen, das Prinzip besser zu verstehen. Komm mit!«
Paul ließ mich erst los, als er spürte, dass meine Wut abgeklungen war. Schnell lief ich dem eilig davontrippelnden Oktavian hinterher. Je größer der Abstand zu meinen Mitschülern war, umso besser.
In seiner schroffen Art wiederholte Oktavian ein paar Feinheiten, die ich beachten sollte, während ich mein Wurfgeschoss formte. Engelsmagie in einen Kaugummi zu transportieren gelang mir dennoch nicht, weshalb Oktavian mir schließlich die Kaugummis wegnahm und mich mit einem Seufzer zum Luftballonfüllen einteilte.
Aron kam, kurz bevor die Stunde zu Ende war. Seine gefurchte Stirn signalisierte, wie wenig es ihm gefiel, mich beim Zuknoten der Zielobjekte vorzufinden und nicht beim Daraufschießen. Oktavian klärte ihn auf.
»Du solltest ihr schnellstens ein paar Manieren beibringen. Aggressive Schüler dulde ich nicht. Beim nächsten Mal werde ich sie rausschmeißen.«
Aron zuckte die Schultern und entspannte sich. »Ich entschuldige mich für sie. Ich hätte dich warnen müssen, dass sie heute nicht besonders gut drauf ist, nachdem ich sie Chris beim Flirten beobachten ließ.«
Meine Faust landete in Arons Magengrube. Der unerwartete Treffer ließ ihn in den Flur zurücktaumeln. Ich empfand kein Mitleid. Sein Plan, mich in Raffaels Arme zu treiben, hatte funktioniert. Was ich dabei gefühlt hatte, schien ihm egal zu sein.
Bevor ich vollends die Kontrolle verlor, setzte ich zur Fluchtan – und landete mitten in Christophers Umarmung. Mit Schal und Mütze vermummt, fing er mich auf dem Weg Richtung Schloss heimlich ab. Wie zwei eiserne Fesseln umschlossen seine Hände meine Oberarme.
»Lass mich los!«, fauchte ich.
»Erst will ich wissen, was passiert ist.«
»Das fragst du noch?« Christopher forderte eine Erklärung von mir ? Er hatte eine andere in den Armen gehalten, nur um Raffael etwas vorzuspielen. Reichte das nicht? Ich kämpfte gegen die Tränen an – und gegen die Wut in meinem Bauch.
»Geh und küss Hannah, wenn es das ist, was du brauchst! Ich bin darin genauso mies wie beim Improvisationskurs.«
»Das bist du nicht, und das weißt du auch.«
»Dann beweis mir das Gegenteil!«
Christopher Augen verengten sich zu Schlitzen. Eine Sekunde zögerte er, dann umschlang sein Mund meine Lippen, während er meine Energie zurückdrängte, um eine Ohnmacht zu verhindern. Noch war ich nicht stark genug, seinem Sog zu widerstehen, doch die Intensität, mit der er um mich kämpfte, gefiel mir.
Kapitel 27
Der Rat der Engel
A rons wachsende Nervosität steckte mich an. Von Woche zu Woche ließ er mich härter trainieren – abgesehen von meinen Flügeln, die weiter dem Schonprogramm unterstanden.
»Und wenn ich sie bei den Prüfungen doch brauche?«
»Niemand weiß, dass du Flügel hast.«
»Bist du dir sicher?«
»Völlig. Coelestin hat in seiner Eremitage nur Engel, auf die er sich verlassen kann. Außer ihm, Christopher und mir weiß keiner etwas davon, zudem hat Nawea in ihrem Bericht ausdrücklich auf deine Flugunfähigkeit hingewiesen.«
»Du hast ihre Beurteilung gelesen?«
»Natürlich.«
»Und?«
Auf Arons Gesicht machte sich ein Grinsen breit. »In ihren Augen bist du ein flügelloser, ungeschickter Tollpatsch, der es zufällig geschafft hat, den Dämonendolch in der Kapelle zu deponieren. Du wirst also weder deine Flügel brauchen noch an die Grenzen deiner Belastbarkeit
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