Tanz der Engel
die Tür zum Nebenraum. Ein kräftiger Junge, der – wie ich nach einer Schrecksekunde feststellte –, Max nur ähnlich sah, und ein blasses, zierliches Mädchen mit hellbraunen, schulterlangen Haaren und mausgrauen Augen betraten den Saal. Wie eingeschüchtert sie sich ohne Vorbereitung in einer Engelschule fühlten, erkannte nicht nur ich. Aufmunternder Applaus empfing sie.
»Willkommen, Lisa und Sven«, begrüßte der Engel, der die Einteilung vorlas, die beiden.
Während der Engel die nächsten Schüler aufrief – unter ihnen Sven –, grinste Paul mich an. Es sollte ein aufmunterndes Lynn-Grinsen sein, doch dazu wirkte es viel zu unsicher.
Als die Sechsergruppe den Raum verließ, wäre ich ihnen am liebsten hinterhergerannt, doch meine Flucht hätte noch im Dogenpalast geendet. Zu viele Engel, und alle wussten, wer und was ich war.
»Kommen wir nun zur Konstellation unserer letzten Gruppe, der Achtergruppe«, setzte der Mann mit der kastenförmigen Maske seine Einteilung fort. »Sebastian kümmert sich um Hannes, Erika wird Leonies Protegé.«
Außer Paul blieben nur noch drei Schüler übrig: Lisa, Susan und ich. Alles Schüler im ersten Jahr. Doch mir war längst klar, dass der Rat mir nicht die Aufgabe des Protegés zuteilen würde – und bei meinem derzeitigen Glück bekam ich sicher Susan als Schützling zugewiesen.
Ich zwang mich, weiterhin gelassen zu wirken, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, mit ihr ein harmonisches Team zu bilden – so wie sie sich seit meiner Engelswerdung mir gegenüber verhielt. Andererseits hing die Teilnahme am Ball vom erfolgreichen Bestehen der Prüfung ab. Versagte ich, durfte auch sie nicht zum Tanz der Engel. Vielleicht genügte dieser Anreiz, damit sie ihre Ablehnung vergaß und sich daran erinnerte, dass wir mal befreundet waren. Sollte sie allerdings Pauls Protegé werden, sah das anders aus. Mir beim Durchfallen zu helfen, war sicher einfach – ich beherrschte weder Engelsmagie noch konnte ich richtig fliegen!
Mein Name wurde aufgerufen. Unweigerlich zuckte ich zusammen. Das Aufblitzen in Sanctifers Augen, als mir Lisa als Protegé zugeteilt wurde, verstärkte meine Angst. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, als ich mit Lisa an meinerSeite vor der Empore der Ratsmitglieder vorbeilief. Trotzig hielt ich Sanctifers königsblauen Augen stand. Er plante, meine Ausbildung zu übernehmen. Doch ich war nicht bereit, kampflos aufzugeben, selbst wenn es meine Flügel ein weiteres Mal in tausend Stücke zerreißen sollte.
Kapitel 28
Maskiert
S chweigend folgten wir der Gestalt mit der Schnabelmaske. Nicht nur ich war entsetzt, dass ich jetzt zu den Prüflingen gehörte. Selbst Susan, Pauls Protegé, vermied es, mir giftige Blicke zuzuwerfen, während wir durch mehrere Räume, Treppen und Flure drei Stockwerke in die Tiefe geschleust wurden.
Schließlich erreichten wir das Ende eines kurzen Kanalausläufers, der bis in das Gebäude reichte. Eine kleine schwarze Gondel stand für uns bereit. Bevor wir einsteigen durften, verpasste der Schnabelmaskenträger jedem von uns ein silbernes Armband – vermutlich ein Wächterband.
Wieder mussten wir in einem verdunkelten Innenraum Platz nehmen. Da ich sowieso nichts sehen konnte, schloss ich die Augen. Modriges Brackwasser klatschte leise gegen die Bordwand. Ich vernahm das sanfte Eintauchen eines Ruders, und das Boot setzte sich in Bewegung. Die Geräusche veränderten sich. Der Nachhall verebbte. Die Luft roch angenehmer, ein wenig wie Aron, nach Meer.
Ich verbot mir, darüber nachzudenken, dass ich ihn als Tutor verlieren könnte. Er war mir ans Herz gewachsen, trotz unserer anfänglichen Schwierigkeiten war er ein Freund geworden. Ich würde ihn vermissen – ihn und Christopher!
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich hielt sie nicht zurück. Im Rumpf des Bootes war es dunkel. Sehen konnte sie niemand, fühlen offenbar schon. Paul griff nach meiner Hand und hielt sie fest.
»In fünf Tagen werden wir zusammen tanzen. Was auch passiert, auf mich kannst du dich verlassen.«
Die Gondel verlangsamte ihre Geschwindigkeit. Vorsorglich wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Hatte ich mir nicht vorgenommen, Sanctifer die Stirn zu bieten? Warum heulte ich dann, anstatt über seine Pläne zu lachen? Ich versuchte zu grinsen. Es half, auch wenn es sich nicht so anfühlte, als würde ich Sanctifer auslachen, sondern ihm die Zähne zeigen.
Als unser maskierter Begleiter die Kajütentür öffnete,
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