Tanz der Engel
Salon im Obergeschoss des Hauses von einem Fenster zum anderen. Den Blick auf den unbelebten Canal Grande fand ich gewöhnungsbedürftig. Mir fehlte das Gewusel der Boote und schwarzen Gondeln, die vor unserem Wechsel in die Engelswelt den Kanal belebt hatten. Da die Bewohner der Engelsstadt fliegen konnten, gab es offenbar nur wenig Boote. Allerdings entdeckte ich auch keinen Engel, der vorbeiflatterte.
Nach dem Abendessen teilte Aron uns in Gruppen ein. Ich war ihm dankbar, ein Einzelzimmer beziehen zu dürfen und nicht, wie Erika, ein Zimmer mit Susan teilen zu müssen. Wie ich gehörten beide zur Gruppe der Protegés – Paul nannte uns Opfer.
Er selbst war Kandidat für die Abschlussprüfung und – falls er bestand – der einzige Anwärter zur anschließenden Wächterengelausbildung. Erst gestern, als Coelestin alle Prüflinge und Protegés verabschiedete, erfuhr er von seiner Einzigartigkeit . Natürlich war er stolz wie Oskar.
Ein Wächterengel konnte nicht jeder werden. Nur Engel, die ein Gespür dafür besaßen, wer bedenkenlos die Welten wechseln konnte, durften ausgebildet werden, Wächterbänder und die dazu passenden Portale herzustellen. Coelestin war einer von ihnen – und Sanctifer, wie Christopher mir verraten hatte.
»Wenn es keine Fragen mehr gibt, bitte ich euch, jetzt eure Zimmer zu beziehen«, befahl Aron, als er mit der Zimmereinteilung fertig war.
Obwohl alle meckerten, weil wir diesmal früher als sonst ins Bett geschickt wurden, leerte sich der Speisesaal rasch. Ich blieb. Aron hatte Christopher geraten, sich bis zum Ende der Prüfungen von mir fernzuhalten, dennoch machte ich mir Sorgen um ihn.
»Lynn, das gilt auch für dich!«, mahnte Aron.
»Ich kann ohne Einschlafhilfe sowieso nicht schlafen. Weißt du, wo Christopher steckt?«
»Die anwesenden Racheengel besprechen sich mit dem Rat.« Arons plötzliche Offenheit, nachdem er und Christopher bei all meinen Fragen zu den Prüfungen und den anderen Racheengeln penetrant geschwiegen hatten, überraschte mich.
»Sind viele von ihnen hier?«
»Alle bis auf den Engel Nordamerikas.«
»Kommen sie jedes Mal zu den Prüfungen, oder … oder sind sie aus einem andern Grund hier?«
Arons Seufzer entging mir nicht. »Ich fürchte, ja. Der Rat möchte sichergehen, dass der richtige Engel ausgebildet wird. Wundere dich also nicht, wenn du etwas in die Markuskirche bringen sollst und dabei auf ein paar Racheengel triffst, die dort rumstehen und dich begutachten.«
»In der Kirche?!«
»Wo sonst? Nur dort sind sie friedlich und springen sich nicht gleich an die Gurgel, wenn sie miteinander reden – was sicher nicht für ungeladene Engel gilt.« Die Warnung richtete sich an mich.
»So schlimm?« Ich konnte fühlen, wie mir vor Angst das Blut in die Beine sackte. Aron bemerkte, dass ich blass wurde.
»Voraussichtlich wirst du nur einen von ihnen näher zu Gesicht bekommen, und der will dich bestimmt nicht nur begutachten.«Aron begann zu grinsen, bei mir dagegen stellte sich spontane Übelkeit ein.
»Und … und was genau will er von mir?«
»Das fragst du Christopher am besten selbst.« Aron begann zu lachen und deutete auf die große Gestalt, die gerade den Salon betrat.
Viel zu früh am Morgen entließ mich Christopher mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn, der mich nicht mehr, als er das tun sollte, aus dem Gleichgewicht brachte. Ohne dass jemand von den anderen Engelschülern etwas bemerkt hatte, war er die ganze Nacht bei mir geblieben – zumindest vermutete ich das, da ich in seinen Armen erwachte.
Eine große schwarze, mit einem goldenen Engel verzierte Gondel erwartete uns auf dem einsamen graugrünen Kanal vor dem Palazzo. Ihre Fenster waren verdunkelt, damit wir nichts von der Engelsstadt sehen konnten. Die Chancen sollten für alle gleich sein.
Auch andere Engelschulen schickten ihre Prüflinge nach Venedig. Einen offiziellen Wettkampf gab es zwar nicht, insgeheim konkurrierten die Schulen trotzdem miteinander. Wer die meisten Schüler zum Ball der Engel mitbringen durfte, wurde zum heimlichen Sieger gekürt. Im letzten Jahr musste sich Coelestins Schule den zweiten Platz mit einer anderen Schule teilen, weshalb das Ziel dieses Mal hieß, zu gewinnen. Und obwohl Aron Spekulationen verboten hatte, wer von uns die Prüfungen bestehen würde und wer nicht, war es das Gesprächsthema Nummer eins. Die Vorstellung, mich als Protegé zugeteilt zu bekommen, gefiel niemandem: Ich galt als unberechenbarer Risikofaktor. Nur
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