Tanz der Engel
konnte niemand mehr sehen, dass ich die Nerven verloren hatte. Unsere Gondel ankerte in einem Tunnel, in den nur spärliches Licht durch die schmale Kanalöffnung fiel. Drei Stufen führten nach oben in ein düsteres Kellergeschoss. Unser Anführer zündete eine Fackel an, die die algenbewachsenen Wände unwirklich grün aufglühen ließ.
Der Marsch durch den Untergrund der Engelstadt dauerte gefühlte Stunden. Aufgrund des ständigen Auf und Ab, über Treppen, verwinkelte Flure, modrige oder nasse Kellerräume, verlor ich nicht nur mein Zeitgefühl, sondern auch völlig die Orientierung. Ich setzte auf Paul oder Sebastian, doch auch die beiden hatten am Ende unserer Kellerwanderung nicht die leiseste Ahnung, wo wir uns befanden.
Der Maskenträger grinste – zumindest leuchteten seine Augen unter der Maske so, als würde er das tun –, während er Paul einen kleinen Lederbeutel in die Hand drückte.
»Bis Mitternacht solltet ihr einen Zugang zu eurem Nachtquartier gefunden haben, sonst könnt ihr gleich wieder nach Hause fahren. Nur wer wieder zurückfindet, darf an den Prüfungen teilnehmen – und vergesst nicht, wo ihr hergekommen seid!«
Nach diesem wenig kryptischen Hinweis schloss der Maskenträger eine marode Holztür auf und schickte uns hindurch, bevor er sie anschließend wieder verriegelte. Doch erst als wirdurch die Hintertür in den kleinen Maskenladen stolperten und Paul einen Geldschein aus dem Beutel zog, wurde klar, in welcher Welt wir uns befanden.
Der mörderische Blick, mit dem uns die Besitzerin musterte, als wir quasi aus dem Nichts auftauchten, riet uns, die Flucht zu ergreifen. Selbst Erika und Susan, die sich gerne die Masken angeschaut hätten, stimmten Sebastians Vorschlag zu. Nur eine wollte den Laden nicht verlassen: Lisa.
Sebastian, der es gewohnt war, sich durchzusetzen, stand kurz davor, sie einfach aus dem Laden zu zerren. Noch ehe der hünenhafte Kerl seine Pranke nach der zierlichen Lisa ausstrecken konnte, stellte ich mich zwischen die beiden.
»Vielleicht gibt es einen Grund, warum sie bleiben möchte«, warnte ich ihn gefährlich leise.
»Und der wäre?«
»Frag sie selbst – und sei freundlich zu meinem Protegé!«, erwiderte ich und trat zur Seite.
Lisa, die verschreckter kaum sein konnte, kaute nervös auf ihrer zitternden Unterlippe.
»Und? Warum sind wir noch hier?«, fragte Sebastian nicht gerade höflich, aber deutlich weniger aggressiv.
»Weil … ich … Ich dachte, dass es vielleicht einen Grund gibt, warum wir gerade hier gelandet sind«, stammelte sie.
»Lisa könnte recht haben«, mischte Paul sich ein. »Im Dogenpalast trug jeder eine Maske.«
»Und einen Mantel!« Sebastian war nicht so leicht zu überzeugen.
Lisa bekam weitere Unterstützung von Erika. »Vielleicht müssen wir uns tarnen, damit wir wieder zurückkönnen.«
»Oder untertauchen«, ergänzte Susan.
»Gut möglich. Als ich Protegé war, mussten wir uns mit Schlamm einschmieren, um ungeschoren an einem Wächter vorbeizukommen«, stimmte Leonie den beiden Mädchen zu.
»Wenn wir acht Masken kaufen, dann bleibt nicht mehr genug für Nahrung übrig«, wandte Sebastian ein.
»Dann gibt’s eben nur eine Pizza für alle«, entschied Leonie und begann, sich umzusehen.
Der Laden war voll mit Masken, eine fantasievoller als die andere. Von bunten Tierköpfen über filigrane Metallarbeiten, ausladendem Federschmuck bis hin zu bunt bemalten Masken jeglicher Art gab es alles, nur keine schlichten weißen. Schließlich nahm Lisa all ihren Mut zusammen und wandte sich an die griesgrämige Verkäuferin, die uns durch ihre dicke Hornbrille beobachtete.
»Die Rohlinge habe ich hinten«, grummelte sie. »Welche soll’s denn sein? Die ovale, die eckige oder die Pestmaske?«
Da wir acht brauchten, entschieden wir uns für drei eckige, zwei ovale – für Erika und Susan – und drei Pestmasken. Ich nahm eine der Kantigen und setzte sie, mit dem Gesicht nach hinten, verkehrt herum auf. Von dem verbliebenen Geld kauften wir uns später zwei Pizzas Margherita – die waren am billigsten – und drei Liter Wasser.
Paul und Sebastian wussten gleich nach der ersten Gabelung, wo wir uns befanden. Wir ließen uns Zeit, schlenderten über den alten Marktplatz am Rialto, passierten die Brücke und wandten uns, dem Canal Grande folgend, nach Süden, wo sich der Palast befand, in dem wir die Nacht verbracht hatten.
Venedig wimmelte von Touristen. Es war Karneval. Auf jedem größeren Platz und an jeder
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