Tanz der Engel
Paul schien damit keine Probleme zu haben – oder sprach das zumindest nicht laut aus.
An einer algenbewachsenen Kaimauer legte die Gondel gegenüber dem Dogenpalast an. Er sah genauso aus, wie ich ihn von Bildern her kannte: zwei weiße, übereinanderstehendeSäulenreihen – die obere mit dünneren, dafür aber doppelt so vielen Pfeilern – und Bögen mit runden, kreuzförmig angeordneten Durchbrüchen, die mich an vierblättrige Kleeblätter erinnerten. In der aus weißen und roten Steinen gestalteten Wand darüber gab es nur ein paar wenige, dafür aber umso größere Öffnungen und einen aufwendig gestalteten Balkon, auf dem man den fantastischen Blick auf die Lagune genießen konnte. Heute lag sie im Morgennebel verborgen.
Wir steuerten auf ein kunstvoll verziertes Portal zu, das den Palast und die danebenliegende Markusbasilika trennte. Ich schluckte, als wir die Kirche passierten und es unter meiner Haut zu kribbeln begann. Leise Panik breitete sich in mir aus, gemischt mit einem Gefühl der Neugier. War eine der schemenhaften Gestalten auf dem Balkon der Basilika ein Racheengel? Konnte ich seine Schattenseite spüren?
Mir blieb keine Zeit, das herauszufinden. Aron warf mir einen warnenden Blick zu, als er meine Neugier bemerkte, und spornte uns an, schneller zu laufen. Nach der Galerie im ersten Stock jagte er uns eine weitere Treppe nach oben. Über uns goldgefasster weißer Stuck und haufenweise Engel mit und ohne Flügel, die kritisch auf uns herabschauten. Noch beeindruckender als der Zugang entpuppte sich der Raum, in dem Aron uns anhalten ließ. Stuckprunk und Engel in Hülle und Fülle – nicht bloß an der Decke.
Aufgeregtes Flüstern füllte mit einem dumpfen Summen den majestätischen Saal. Mindestens dreihundert Engelschüler fieberten ihren Prüfungen entgegen. Nicht nur meine Nervosität wuchs. Während Markus ängstlich um sich blickte, begann Paul dumme Witze zu reißen. Immerhin halfen sie den umstehenden Schülern, sich ein wenig zu entspannen. Ich kannte die meisten schon und verfiel wieder ins Grübeln. Arons Hand legte sich auf meine Schulter. Erschrocken zuckte ich zusammen.
»Bleib einfach du selbst, dann wird das Schlimmste an der ganzen Prüfung der Tanz mit mir sein.«
»Du reservierst schon im Voraus? Und wenn ich nicht bestehe?«
»Du wirst. Und so wie ich deinen Freund einschätze, wird er dich nur ungern mit jemandem teilen.« Bewusst hatte Aron darauf verzichtet, Christopher beim Namen zu nennen.
Bei dem Gedanken an meinen Freund wurde mir warm ums Herz. Aron grinste – genau das wollte er erreichen.
Die Tür zum angrenzenden Saal öffnete sich. Schlagartig verstummten die Gespräche. Eine große Gestalt trat ein. Sie trug einen schwarzen, bodenlangen Mantel. Ihr Gesicht war von einer weißen, kantigen Maske verdeckt, die nur die Augen aussparte. Die Anspannung im Saal erreichte die nächste Stufe, als sechs weitere, ähnlich verhüllte Gestalten hinter ihr Stellung bezogen. Sie trugen ebenfalls weiße Masken: Pestmasken mit überdimensionierten Krähenschnäbeln.
Ich bemerkte, wie Erika sich an Markus klammerte. Auch mir wurde kalt, und selbst Paul, der, wie alle Prüflinge, den Ablauf aus seinem Erstlingsjahr kannte, wirkte unsicher.
Die Stimme des Anführers verkündete den Namen der ersten Schule. Achtzehn nervöse Engelsprüflinge, ihre Protegés und der dazugehörende Tutor traten vor. Einer der Geschnäbelten wählte sechs Schüler aus und verschwand mit ihnen in dem angrenzenden Raum. Kurz darauf folgten die nächsten sechs. Als die letzte Gruppe im Nebenraum verschwand, fiel die schwere Tür ins Schloss und sperrte nicht nur uns von dem Geschehen aus – auch der Tutor blieb draußen.
»Du kommst nicht mit?«, fragte ich Aron leicht panisch.
»Nein. Meine Aufgabe endet hier.«
»Und … und was ist mit …?« Aron legte mir einen Finger auf die Lippen, bevor ich Christopher sagen konnte. Er wusste, wen ich meinte.
»Auch ihn wirst du erst am Tag des Maskenballs wiedersehen.«
»Aber … der ist doch erst in fünf Tagen?!«
»Lynn«, Aron legte seine Hände auf meine Schultern, um mich zu beruhigen. »Pass gut auf, welche Probleme die Prüflinge in deiner Gruppe lösen müssen. Hilf ihnen, wenn du kannst, und falls du eine Extraaufgabe bekommst, stell dich ihr. Du bist bestens vorbereitet.«
Ich holte tief Luft, um zu widersprechen.
»Kein Aber. Du bist Protegé und nicht Prüfling. Niemand wird von dir etwas erwarten, was du nicht kannst – und
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