Tanz der Engel
schon von weitem. Offenbar hatten ihnen die teuren Eintrittskarten auch nicht weitergeholfen.
Wir passierten die Markuskirche – das Kribbeln ignorierte ich – und trafen auf sechs weitere Prüflinge am Hintereingang des Dogenpalasts, gegenüber dem Zugang, der durchs Wasser führte.
»Können wir nicht einfach eine Gondel mieten?«, fragte ein Mädchen mit kurzen schwarzen Stoppelhaaren.
»Und mit welchem Geld?«, antwortete einer ihrer Mitstreiter. Auch sie waren pleite.
»Ein Boot zu mieten bringt eh nichts«, erklärte Paul, bevor der Streit eskalierte. »Der Zugang liegt ziemlich weit unter der Wasseroberfläche.«
»Ach?! Und du kannst das von hier aus spüren?«, keifte das dunkelhaarige Mädchen.
»Klar kann er das. Als zukünftiger Wächterengel hat er ein Gespür für so was«, klärte Susan sie auf.
Keiner aus der Gruppe glaubte ihr. Schließlich kamen wir von einer anderen Schule und waren Konkurrenten, weshalb sie beschlossen, woanders zu suchen. Auch wir dachten über eine Alternative nach, da es bei Tag sowieso nicht möglich war, unbemerkt in den Kanal zu tauchen, über den die bekannte Seufzerbrücke führte – es gab hier zu viele Touristen mit Fotoapparaten, die das Ganze dokumentieren würden. Und das oberste Gebot für Engel in der Menschenwelt lautete: nicht auffallen!
»Und du bist dir mit dem Portal ganz sicher?«, hakte Leonie noch mal bei Paul nach.
»Völlig! Aber ich hab auch nichts dagegen, einen trockeneren Zugang zu finden. Ich bin lieber von Luft als von Wasser umgeben.« Alle stimmten ihm zu, selbst ich, deren Flügel auch in der Luft nicht viel taugten. In einen Kanal abtauchen zu müssen gefiel mir nicht: Es war zu kalt und viel zu dunkel.
»Also los, dann lasst uns woanders ein Portal suchen«, übernahm Sebastian die Führung.
Wir beschlossen, uns in zwei Gruppen aufzuteilen und uns kurz vor Sonnenuntergang wieder hinter dem Dogenpalast zu treffen. Falls keiner bis dahin eine bessere Möglichkeit gefunden hatte, konnten wir immer noch den Zugang über den Kanal wählen.
Paul, Lisa, Susan und ich bildeten eine Gruppe. Obwohl Susan lieber mit Erika losgezogen wäre, blieb ihr nichts anderes übrig, als Paul, ihrem Schutzengel, zu folgen – und mich zu ertragen. Sie krallte sich die schüchterne Lisa und hielt Abstand zu Paul und mir. Wir durchforsteten den westlichen Teil einschließlich des Markusplatzes, während die anderen den östlichen Bereich übernahmen. Natürlich mussten wir wieder an der Basilika vorbei, und auch dieses Mal galt die Aufmerksamkeit der Schwarzgewandeten mir.
»Sind hier viele Engel unterwegs?«, fragte ich Paul.
»Kostümierte? Oder wie meinst du das?«
»Nein, solche wie du – und ich.«
Paul konnte sein Entsetzen nicht verbergen. »Du … du meinst … auch Racheengel?!«
»Ja. Spürst du sie nicht?«
»Nein – das gehört wohl in dein Ressort. Aber normalerweise werden höchstens zwei, maximal drei Racheengel gleichzeitig geladen.«
Ich schwieg. Paul brauchte nicht zu wissen, dass fast alle in Venedig waren – und das meinetwegen. Meine Neugier ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Obwohl Aron mich gewarnt hatte, zog die Basilika mich magisch an. Ich wollte wissen, wie meine Chancen lagen, Sanctifer zu entkommen, und auf welcher Seite die Racheengel standen. Vielleicht konnte ich ihre Entscheidung beeinflussen. Mit ängstlichen Blicken in Richtung Basilika gelang mir das bestimmt nicht. Außerdem hatte Aron schon einmal falschgelegen, was Racheengel betraf – sicher war er nur übervorsichtig. Aber vor allem wollte ich wissen, ob Christopher in der Basilika war.
In einer kleinen Seitengasse blieb ich stehen und bat Paul, mir seine helle Jacke zu leihen.
»Was hast du vor?«
»Nachsehen, ob mein Gefühl stimmt.«
»Welches Gefühl?«
»Das, das mir sagt, dass ich von meinesgleichen auf die Probe gestellt werde.«
Paul zuckte zusammen. »Du meinst vom Zirkel der Racheengel?«
»Ist das so abwegig?«
»Nein, aber wie kommst du darauf, dass sie dich einer Extraprüfung unterziehen? Den Racheengel-Anwärtertest hast du doch schon bestanden.«
»Das sehen anscheinend nicht alle so.«
Paul strich seine perfekt gegelten Haare zurück. Er wirkte nervös – oder hatte Angst. »Hat Aron dir das erzählt?«
»Ja. Außerdem ist mir dieses Ding mit den roten Augen bestimmt nicht zufällig über den Weg gelaufen.«
»Hier?! Im Menschen-Venedig?« Jetzt war es Angst, die sich auf Pauls Gesicht widerspiegelte. »Und du bist dir
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