Tanz der Engel
Auch von unserer Schule hatte es eine Gruppe nicht geschafft, diese Aufgabe zu lösen. Die Stimmung im Speisesaal schwankte zwischen Euphorie und bedrückter Nachdenklichkeit. Alle machten sich Sorgen, welche Überraschungen uns am kommenden Morgen erwarten würden.
Meine nächste Überraschung erlebte ich schon während des Essens. Lässig, als gehöre er zu uns, schlenderte Raffael auf unsere Gruppe zu. Keiner meiner Mitschüler kannte ihn, weshalb ich misstrauische Blicke erntete – auch von Paul. Zum Glück wussten sie nicht, wessen Ziehsohn er war. Dass er mir vor versammelter Mannschaft ein Päckchen überreichte und in Rätseln sprach, komplizierte die Sache jedoch.
»Ich soll dir Grüße von einem Freund übermitteln – und ein Geschenk.«
Noch bevor ich ablehnen konnte, stand das Paket neben meinem Teller, und genauso schnell, wie er gekommen war, verschwand Raffael durch die Reihen. Sprachlos schaute ich ihm hinterher. Pauls Ellbogen weckte mich aus meiner Starre.
»Du kennst den Typen?«
»Ja. Vom Internat.«
Paul stutzte. »Du hast Freunde, die hier und drüben leben?«
»Na ja, als Freund würde ich Raffael nicht bezeichnen. Undja, er lebt in beiden Welten. Er … er ist ein Flüsterer«, erklärte ich leise.
»Was? Jemand hat einen Spitzel auf dich angesetzt?« Sebastian, der unser Gespräch mit angehört hatte, war entsetzt.
»Anscheinend«, wich ich aus.
Paul schüttelte den Kopf und sah mir in die Augen. »Eine Lüge am Tag reicht dir wohl nicht. Ich bin mir sicher, dass du weißt, wer dich beobachten lässt!«
Pauls unterkühlte Bemerkung hatte ich verdient. Ich reagierte aggressiv, anstatt ihn um Verzeihung zu bitten.
»Es wird sich nichts ändern, wenn ich dir seinen Namen verrate!«
»Wer weiß? Vielleicht kann ich dir helfen, ihn loszuwerden.«
»Ein Mitglied des Rats?! Träum weiter, Paul.« Ich schnappte mir das Paket, stand auf und verließ den Speisesaal.
Sebastian und Paul mit hineinzuziehen war falsch. Sie sollten sich auf ihre Prüfungen konzentrieren, vor allem Paul. Wenn er nicht bestand, konnte er die Ausbildung zum Wächterengel abhaken. Am besten, sie hielten Abstand von mir – oder ich von ihnen. Meinetwegen sollte niemand durchfallen.
Nervös lief ich in meinem kleinen, kalten Zimmer umher. Außer dem schmalen Bett mit der weichen Matratze und der viel zu dünnen Decke, einer Kommode für Kleider und einem braunen Holzstuhl gab es nichts, was meine Konzentration von Sanctifers Geschenk ablenkte. Das schwarze, mit einer roten Schleife verzierte Päckchen thronte wie eine tickende Zeitbombe auf dem weißen Laken in meinem Bett. Es war nicht sein erstes Geschenk an mich. Vielleicht sollte ich es einfach in die Kommode legen und vergessen. Andererseits würde sich meine Lage kaum verschlechtern, wenn ich wusste, was er von mir wollte. Allerhöchstens wenn sich so etwas wie Dämonenstaub oder eine dämonische Waffe darin befand. Warum bloßhatte ich Raffael das blöde Paket nicht einfach hinterhergeschmissen? Sein Pseudoonkel konnte mich mal!
Obwohl ich es besser wissen sollte, setzte ich mich zu dem Päckchen. Es wunderte mich nicht, dass meine Hände zu zittern begannen, als ich die Schleife abwickelte – böse Überraschungen auszupacken gehörte nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.
Bevor ich den Deckel anhob, schnupperte ich vorsichtig daran. Außer ein wenig Raffaelduft roch ich nichts. Seinen Ziehsohn mit einem tödlichen Geschenk vorbeizuschicken passte auch nicht zu dem Bild, das ich von Sanctifer hatte. Er agierte gerissen, heimlich und ohne Spuren zu hinterlassen.
Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, doch als das lederne Armband zum Vorschein kam, glaubte ich dennoch zu ersticken. Die silberne Spange mit den beiden Flügeln fehlte, aber auch so erkannte ich Christophers Wächterband, das er trug, als er sich an mich band – zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht wusste, dass meine Wandlung zum Racheengel bereits begonnen hatte.
Mit fiebrigen Fingern nahm ich das Armband samt dem darunterliegenden Pergament und begann zu lesen.
Liebste Lynn,
Du hast dich wacker geschlagen. Aron hat Dir mehr beigebracht, als ich Deinem einstigen Tutor zugetraut hätte. Damit ich Deine Schwächen besser kennenlerne, habe ich dafür gesorgt, dass Du keine unerlaubte Hilfe erhältst, während Du mein Rätsel löst. Deine Ausbildung fortzuführen ist mir ein besonderes Vergnügen.
Sanctifer – neuestes Mitglied des Rats der Engel
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