Tanz der Engel
leuchtende Anemone besser in den Mund gestopft, dann hätte ich nicht schreien können und stattdessen gesehen, was uns angriff.
»Medusarats!«, rief Paul. »Verteilt euch!«
Sein Engelsschwert flammte auf. Sebastians folgte und warf ein schemenhaftes Licht auf die flackernden Zigarettenglutaugen. Geschuppte, rattenförmige Tiere mit quastenartigen Flossen quollen aus einem der Nebentunnel. Mit ihren zuckenden Peitschenschwänzen, die aussahen wie die Fangarme einerQualle, trieben sie ihre Beute voran, um gemeinsam über ihre Opfer herzufallen.
Paul erteilte uns die Anweisung, in Bewegung zu bleiben, drängte sich mit seinen für den Kanal viel zu ausladenden Flügeln zwischen Susan und Lisa, die sich am liebsten gegenseitig festgehalten hätten, und trieb mit Sebastian die Medusarats in den Seitentunnel zurück.
Ich – mal wieder waffenlos – behielt die anderen Tunnel im Auge, damit ich die beiden warnen konnte, falls es noch mehr Medusanester gab. Medusarats entdeckte ich keine. Etwas anderes, Düsteres lockte mich zu sich.
Der Gestank in dem niedrigen Seitentunnel wurde heftiger, doch viel übler waren die Gefühle, die sein Besitzer in mir auslöste: Hass. Wut. Das Verlangen, etwas fangen und vernichten zu wollen. Mein Magen rotierte. Ich stand kurz davor, mich zu übergeben – und dennoch zog es mich tiefer in den düsteren Tunnel hinein.
Ich kramte das Anemonenlicht hervor. Es leuchtete nur noch schwach, doch ich hatte, nach meiner miesen und Pauls perfekter Protegérettung, heute wahrscheinlich sowieso keine Chance mehr auf ein Ticket.
Ohne mein Zutun begannen meine Beine schneller zu rennen. Wenn ich es erledigen wollte, musste ich es einholen. Mein Instinkt leitete mich durch das verschlungene Kanalsystem, führte mich zu einem Wesen, das ich abgrundtief hasste: ich oder es. Alternativlose Gewissheit.
Das Luftholen fiel mir schwer. Das Tauchen hatte mich erschöpft. Trotz Atemlosigkeit trieb es mich weiter – ich musste, meine Racheengelseele drängte mich, auch wenn alles gegen mich sprach.
Das Geräusch eines zufallenden Schlosses hallte dumpf durch die Gänge. Meine Jagd würde bald enden, das Schattenwesen sich mir stellen oder verschwunden sein.
Das Gitter der Zisterne trennte uns. Seine Aufgabe war beendet. Nur seinen Geruch und die Reste von Boshaftigkeit hatte es zurückgelassen – und etwas Glänzendes.
Im selben Moment, als ich die silberne Spange berührte, erloschen das Licht meiner Anemone und mein Drang, es zu jagen. Blind vor Gier war ich dem dunklen Geschöpf gefolgt und hatte gleich mehrfach verloren: meine heutige Prüfung, meine Entschlossenheit und völlig die Orientierung.
Planlos tapste ich durch feuchte Dunkelheit. Meiner Angst verbot ich, zu wachsen. Immer wenn ich auf einen Schacht stieß, der nach oben führte, verließ ich den Tunnel und folgte dem nächsten. Um nicht in ein Medusanest oder ähnlich Übles zu laufen, setzte ich auf mein Gehör. Kratzende und ächzende Geräusche, selbst hallende Schritte mied ich. Auch wenn es vielleicht nur Engelschüler waren, die nach dem Ausgang suchten.
Meine Taktik, die mich nach oben führen sollte, ging nicht auf. Nach dem x-ten Tunnel, der so schmal wurde, dass ich nicht hindurchpasste und wieder umkehren musste, gab ich auf. Ich wusste weder wo noch wie tief ich unter der Erde war. Zusammengekauert versuchte ich, die Wärme, die mir noch geblieben war, in meinem Körper zu halten, und hoffte, dass Engel ihre Prüflinge nicht im Stich ließen.
Mein Schutzengel hieß Paul. Er war mir gefolgt. Ohne mich konnte weder er noch Sebastian die Prüfung bestehen. Es waren seine Schritte, die ich gehört hatte – und vor denen ich geflüchtet war.
»Konntest du dich nicht schon ein wenig früher hinsetzen und warten? Ich war schon drei Mal kurz davor, dich einzuholen.« Weitere Vorwürfe sparte er sich, was wahrscheinlich an meiner erbärmlichen Verfassung lag.
Susan störte das nicht. Als Pauls Anemone beim ersten Sonnenstrahl erlosch, stellte sie sich mir in den Weg.
»Du!« Zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, starrte sie mit ihren blauen Augen auf mich herab. »Gibt es irgendwo in dir noch ein Gewissen? Etwas, das begreift, was du tust? Das merkt, auf wessen Kosten dein Verhalten geht? Oder macht es dir einfach nur Spaß, böse zu sein?!«
Böse. Ihre Anschuldigung traf mich. Sie hielt mich für skrupellos – und böse. Böse . Dumpf hallte das Wort in meinem Kopf. Böse wollte ich nicht sein.
Selbst literweise
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