Tanz der Engel
anhalten und fliegen waren nur ein paar der Dinge, die ich nicht konnte.Knapp sechzig Engelschüler fieberten ihrer letzten Prüfung entgegen. Nur für Paul, Susan, Lisa und mich stand das genaue Ende noch nicht fest. Susan mied meine Nähe, soweit ihr das möglich war. Ansonsten schenkte sie mir eisige Blicke, weshalb ich Pauls Vorschlag, mit ihr zu reden, auf später verschob. Erst als sie mit Lisa aufgefordert wurde, einem der maskierten Engel zu folgen, ging mir auf, dass es vielleicht kein Später mehr geben würde.
Unsere heutige Aufgabe hörte sich einfach an. Unsere Protegés wurden zwischen den nah beieinanderliegenden Plätzen Santo Stefano und Sant’ Angelo ausgesetzt. Wer es schaffte, sie zum Markusplatz zu lotsen, durfte die leuchtende Vogelschwinge hoch oben auf dem Campanile holen. Um den Schein zu wahren, gab es für mich eine Slackline, die vom höchsten Punkt der Basilika zum Glockenturm führte. Wie ich Lisa jedoch zum Markusplatz bringen sollte, blieb mir ein Rätsel. Ihr Bilder in den Geist projizieren, wie Christopher und Paul das beherrschten, um ihr den Weg zu zeigen, konnte ich nicht. Es war offensichtlich, dass ich heute durchfallen sollte. Selbst Paul verging das Grinsen – bis er eine Lösung fand.
»Susan und Lisa bleiben mit Sicherheit zusammen. Sie wissen, dass wir ein Team sind und nur gemeinsam bestehen können. Du musst also nur rüber zum Turm balancieren und dir die Feder holen. Den Rest übernehme ich – schließlich kann mich niemand dazu zwingen, mir die Vogelschwinge zu holen.«
»Außer mir«, brachte ich Pauls Plan zum Zerplatzen.
»Lynn, es war nicht fair, dich schon in deinem ersten Jahr zum Prüfling zu machen, zumal du noch nicht mal Flügel hast.«
Ich schwieg, obwohl ich Paul gerne die Wahrheit erzählt hätte. Doch ihm zu verraten, dass ich welche besaß, hätte Arons Vorsichtsmaßnahme gefährdet, sie geheim zu halten, falls wir belauscht wurden.
»Für mich wird die Einzelprüfung morgen ein Kinderspiel«,fuhr Paul fort. »Oder willst du etwa nicht mit zum Maskenball?«
Der Ball war verlockend, die Prüfung nicht. Und meine Chancen, Sanctifer zu entkommen, waren heute sicher größer als morgen.
»Nur wenn du nicht auf die Idee kommst, ich müsste den ganzen Abend mit dir tanzen.« Wir lachten beide, was half, unsere Anspannung ein wenig zu lösen.
Die erste Hürde erwartete mich am Eingang der Markuskirche. Während die meisten Prüflinge einfach hoch auf die Empore flogen, wo es heute keine schwarzgekleideten Engel gab, musste ich den Weg durch die Basilika nehmen. Paul begleitete mich, warf mir einen entsetzten Blick zu, als ich strauchelte, wartete aber mit dem Eingreifen, da er meine Reaktion auf zu viel Engelsmagie kannte.
Ich schaffte es auch ohne seine Hilfe auf den Balkon, der einen wunderbaren Blick auf den größten Platz der Stadt bot. Unter den Arkadengängen der weißen, prunkvollen Gebäude, die San Marco umschlossen, drängten sich Scharen von Engeln, um den Prüflingen zuzusehen. Der Platz selbst war gesperrt. Ein 3-D-Miniatur-Abbild des gleichnamigen Stadtteils, dem Original bis ins kleinste Detail nachempfunden, erstreckte sich über San Marco. Selbst künstlich animierte Personen im Miniformat liefen zwischen den winzigen Scheingebäuden umher. Erst an Pauls Flüchen und seinen zusammengekniffenen Augenlidern erkannte ich, dass die Projektion nicht nur ein schöner Anblick für Orientierungsschwache war, sondern der Schauplatz unserer Aufgabe.
»Geh Richtung Brücke … zur Brücke«, wiederholte Paul leise, während er auf einen bestimmten Punkt der Hologrammstadt starrte.
Auch die anderen Engelschüler raunten sich ständig wiederholende Worte zu wie: an der Kirche vorbei , nach Norden , über den Kanal oder die Zweite nach links – nicht die Erste !
»Halt Ausschau nach den Engeln in Schwarz auf dem kleinen Platz, und warn mich, wenn sie nach Osten laufen.« Pauls Befehl galt mir.
Kleiner Platz? Welchen meinte er?! Und wie sollte ich ihn in dem Gewirr von Straßen, Plätzen, Kanälen, Gebäuden und umherwuselnden Miniengeln finden?! Paul überschätzte meine Fähigkeiten gewaltig.
Zwischen zwei leisen »Über die Brücke am Kanal entlang!« vernahm ich ein lautes »Östlich des langen Platzes, südlich von Sant’ Angelo!«
Da sich das Hauptgeschehen gerade auf zwei Orte konzentrierte, einen eher quadratischen und einen langgezogen Platz, fand ich auf der 3-D-Karte schnell, wovor ich Paul warnen sollte: Eine in schwarze
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