Tanz der Engel
Treppenstufen schlugen.
Drei oder vier Etagen höher – so genau konnte ich das nach dem verwirrenden Weg über dunkle Flure und schmale, verwinkelte Treppen nicht sagen – blieben meine Bewacher vor einer massiven, mit Schnitzereien verzierten Tür aus poliertem Holz stehen, klopften und warteten.
Ein maskierter Engel öffnete. Weitere standen, steif wie Soldaten, in den Ecken oder vor dem halbrunden Podest – bestimmt, um sicherzustellen, dass ich mich benahm .
Auch hier quoll der Raum über von in Gold gefassten Wandund Deckengemälden. Die Mächtigen Venedigs verstanden es, zu beeindrucken – und einzuschüchtern. Elf weißmaskierte Engel, zehn in Schwarz, einer in Rot, starrten mich an: der Rat der Engel und ihr Anführer, der Doge.
Ich straffte die Schultern, als ich durch die energiegeladene Pforte trat, ignorierte die vor meinen Augen auftauchenden Sternchen, ließ mich zum Podest führen und blieb mit durchgedrücktem Rücken vor der lauernden Meute stehen. Eine falsche Bewegung, und die Soldaten würden sich auf mich stürzen.
Sanctifers royalblaue Augen blitzten auf. Ich hielt seinem durchdringenden Blick stand. Dass ich Flügel besaß, schien mich für ihn noch interessanter zu machen – und nicht nur fürihn. Lindgrüne, mit silbernen Sprenkeln durchsetzte Augen unter der Maske des Dogen musterten mich von oben bis unten. Härte lag in dem Blick. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass er nichts von meinen Schwingen gewusst hatte. Und den anderen auch nicht.
Mein wachsendes Unbehagen verbarg ich hinter einem Lächeln – oder eher Zähnezeigen. Ich war einem Schattenengel entgegengetreten, von normalen Engeln ließ ich mich nicht einschüchtern – zumindest redete ich mir das ein. Dass ich vor Anspannung bebte, schob ich auf den Sturz vom Campanile.
Ein Engel mit schwarzbraunen Augen, der rechts des Dogen saß, ergriff das Wort.
»Enthülle deine Schwingen!«
Wenn ich jetzt nicht meine Flügel zeigte, würde ich den Rat gegen mich aufbringen. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich schaffte es nicht, sie hervorzuzaubern. Meine Energie war aufgebraucht.
»Es tut mir leid, aber das kann ich nicht – nicht jetzt.« Meine Stimme klang fest, worüber ich unheimlich froh war.
Die Temperatur im Raum schien zu sinken. Ich fröstelte, widerstand aber dem Drang, meine Arme um meinen Körper zu schlingen. Ich war der Racheengel. Sie sollten Angst vor mir haben, nicht ich vor ihnen.
Der Gedanke stärkte mein Durchhaltevermögen. Trotzdem zitterte ich, während der Dunkeläugige aufstand, die Stufen zu mir herabschritt und mich umrundete. Als seine Hand meinen Rücken berührte, konnte ich einen Schrei gerade noch unterdrücken. Dass ich aufatmete, als er seine Energie wieder zurückzog, nicht.
»Eigentlich solltest du noch gar keine Flügel besitzen. Dein Körper ist noch nicht so weit. Und vielleicht täuscht auch der Rest von dir etwas vor, wozu du eigentlich nicht fähig bist.« Die dunklen Augen wurden schwarz, während er mich mit zusammengekniffenenLidern betrachtete. »Wir werden sehen.« Der schwarze Umhang flatterte auf, als er sich umdrehte und zu seinem Platz zurückkehrte.
Meine Aufmerksamkeit wanderte zu Sanctifer. Was der Doge dem Fragesteller ins Ohr flüsterte, konnte ich sowieso nicht verstehen. Sanctifers Augen leuchteten. Anscheinend gefiel ihm mein unerwartetes Coming-out ebenso sehr wie die außerplanmäßige Zusammenkunft des Rats.
»Dein wievielter Flug war das?« Die dunkelbraunen Augen fixierten mich ebenso eindringlich wie die lindgrünen des Dogen. Offenbar stammte die Frage von ihm.
»Mein zweiter«, sagte ich. Das war keine Lüge – beim ersten Mal war ich schließlich abgestürzt und nicht geflogen. Mein erster Flug war der mit Christopher vom Dach des Schlosses gewesen.
»Berichte uns, wann deine Flügel zum ersten Mal durchbrachen«, forderte der Sprecher des Dogen.
Ich seufzte – natürlich tonlos. Sie hatten meine Lüge geschluckt. Hoffentlich würden sie auch die Nächste schlucken. Dass Aron meine Flügel geheim halten wollte, würde ich dem Rat nicht erzählen.
»An Weihnachten. Ich war gerade zu Besuch bei meinen Eltern. Ich dachte, ich wäre so weit, und stürzte mich von einem der Felsen.« Meine Geschichte verursachte einen kollektiven Schock. Die Engel ahnten, was folgte. Nur Sanctifer blieb unbewegt.
Wusste er von meinem Absturz? Hatte er deshalb die Silberflügel am höchsten Punkt der Engelstadt versteckt? Hatte er die Windböe
Weitere Kostenlose Bücher